Europas Weg aus der russischen Energieabhängigkeit
09.11.2022
Jordy Hermanns, Portfolio Manager bei Aegon Asset Management / Foto: © Aegon
Die Erdgasknappheit und die Reaktion der EU
Die Gesamtgasnachfrage in Europa betrug rund 480 Mrd. Kubikmeter, wovon Russland vor 2019 etwa 160 bis 170 Mrd. Kubikmeter lieferte. Als Russland in Vorbereitung auf seine Invasion die Lieferungen reduzierte, wurde es auf den europäischen Gasmärkten enger, was zu höheren LNG-Importen führte. Der Umfang des verfügbaren LNG ist jedoch begrenzt, so dass es nicht möglich ist, ausreichende Mengen zu beziehen, um die russischen Einfuhren vollständig zu ersetzen. Auch andere Exporteure wie Norwegen haben keine oder nur sehr begrenzte Kapazitätsreserven. Nur die Niederlande verfügen über freie Kapazitäten in ihrem Groningen-Feld. Die Niederlande produzierten 2019 noch 40 Mrd. Kubikmeter, doch diese Menge ist aufgrund der beabsichtigten Schließung dieses Gasfeldes rückläufig.
Wenn die russischen Gasimporte vollständig eingestellt würden, hätte Europa 40 Mrd. Kubikmeter (oder 10 %) weniger Gas zur Verfügung, was sich bis 2023 auf einen Verlust von 111 Mrd. Kubikmeter (23 %) erhöhen würde. Es wurden mehrere Maßnahmen ergriffen, um die Gasnachfrage zu senken. Dazu gehören die Abschaltung von Kohlekraftwerken und die Verlängerung der Laufzeit von Kernkraftwerken. Diese Maßnahmen dürften die Gasnachfrage um jeweils 10 Mrd. Kubikmeter verringern. Auch die beschleunigte Installation von Wind- und Solarprojekten wird dazu beitragen, die Gasnachfrage im Elektrizitätssektor zu senken. Kurzfristig werden diese Maßnahmen jedoch aufgrund ihrer langen Bauzeiten nur eine marginale Wirkung haben.
Diese Maßnahmen reichen jedoch noch nicht aus, um russisches Gas zu ersetzen. Daher muss ein erheblicher Teil durch eine Verringerung der Nachfrage erreicht werden, vorzugsweise durch Energieeffizienzmaßnahmen wie die Verbesserung der Gebäudedämmung oder die Senkung der Heiztemperaturen. Einige Prognosen gehen davon aus, dass dadurch weitere 25 Mrd. Kubikmeter eingespart werden könnten. Ein vollständiger Stopp der russischen Importe würde jedoch bedeuten, dass Europa zusätzlich zu diesen bereits recht anspruchsvollen Zielen die Nachfrage um weitere 38 Mrd. Kubikmeteroder 8 % senken müsste. Daher sind in diesem Szenario wahrscheinlich hohe Gaspreise erforderlich, um eine weitere Reduzierung der Nachfrage zu bewirken.
Ein Teil dieser Nachfragereduzierung findet bereits statt, da einige energieintensive Tätigkeiten unwirtschaftlich geworden sind. Die ersten Anzeichen für einen Nachfragerückgang sind bereits sichtbar. Der Gasverbrauch war in diesem Sommer um etwa 11 % niedriger als in früheren Sommern. Mehrere energieintensive Unternehmen haben bereits ihren Betrieb eingestellt, z. B. Zinkhütten und Düngemittelfabriken. Es ist schwer, die genauen wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Schließungen abzuschätzen, aber sie dürften erheblich sein.
Gasvorräte bauen sich auf
In der Zeit vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine lagen die europäischen Erdgasvorräte unter ihrem Fünfjahresdurchschnitt. Angesichts der Befürchtungen, dass die russischen Gasimporte zum Erliegen kommen könnten, schien es eine schwierige Aufgabe zu sein, eine hohe Einspeiserate aufrechtzuerhalten, um sich auf den Winter 2022/2023 vorzubereiten. Der Europäischen Union ist es jedoch in bewundernswerter Weise gelungen, ihre Lagerbestände aufzustocken.
Inmitten der russischen Invasion und der Befürchtung eines russischen Gasausfalls ist es Europa gelungen, seine Vorräte aufzustocken und für den kommenden Winter besser gerüstet zu sein als ursprünglich erwartet. Leider reichen die Vorräte allein nicht aus. Europa wird auch einen hohen Preis zahlen müssen, um in den kommenden Jahren genügend LNG zu erhalten.
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