Schwieriges Terrain
10.05.2023
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Seit vielen Jahren polarisiert die Technologiebranche durch hohe Volatilität und ungenaue Bewertungen an den Märkten. Immer wieder gibt der wachstumsorientierte Sektor neue Rätsel auf. Nach einer von Zinserhöhungen und schwächelnder Konjunktur schwer belasteten Phase scheint jetzt erneut eine Wende erreicht. Doch was das Herz vieler Growth-Investoren bereits höherschlagen lässt, könnte sich auch als Fata Morgana entpuppen.
Es war sicher keine gute Zeit, die Tech in diesen Tagen hinter sich hat. Auch wenn 2022 branchenübergreifend ein schwaches Aktienjahr war, beeindruckte der Tech-Sektor mit nahezu bodenlosen Verlusten – den größten seit 2008. Der technologielastige Nasdaq, der zuvor noch einer der großen Pandemie-Gewinner gewesen war, büßte knapp ein Drittel seines Wertes ein. Zuletzt kam es selbst bei festen Größen der Branche zu massiven Kündigungswellen. Drastische Dynamiken wie diese sind für wachstumsorientierte Unternehmen nichts Neues. Bereits das Platzen der Dotcom-Blase hat gezeigt, wie wenig subjektive Zukunftsaussichten mit der tatsächlichen Wertschöpfung zu tun haben müssen. Auch nach dem Corona-Crash kam es teilweise zu extremen Überbewertungen, die in keinem Verhältnis zum Unternehmenswachstum standen. Doch warum fallen Bewertungen des Tech-Sektors so ungenau aus wie in kaum einer anderen Branche? Dafür gibt es viele Gründe. Und vielleicht ist eben diese Multifaktorialität bereits der wichtigste davon.
Das Umfeld wird komplexer
Growth-Titel zeichnen sich bekanntermaßen durch eine größere Zeitspanne zwischen Bewertung und erwarteter Wertschöpfung aus. Das bietet viel Raum für unvorhersehbare Einflussfaktoren, wovon es gerade in den vergangenen Jahren ungewöhnlich viele gab: Pandemie, Krieg und Inflation brachten nicht nur viele Anleger dazu, aus risikoreichen Investments auszusteigen, sondern veränderten auch laufend die Nachfrage nach diversen Rohstoffen und Technologien. Das erschwert nicht nur Investoren die Bewertung, sondern auch Tech-Unternehmen das Wirtschaften. Ein passgenaues Übereinkommen der beiden Seiten erscheint zunehmend unwahrscheinlich. Zudem haben viele neu entwickelte Technologien das Potenzial, den Markt komplett auf den Kopf zu stellen. Das gilt heute vor allem für Künstliche Intelligenz, wie zuletzt der Text-Bot ChatGPT bewiesen hat. Laut einer UBS-Studie hält das Tool bereits den Rekord für die am schnellsten wachsende Nutzergruppe. Bei der aktuellen Schlagzahl technologischer Entwicklungen ist es kein leichtes Unterfangen, solch ein Szenario rechtzeitig vorherzusehen. Für einen erfolgreichen Growth-Investor reicht es daher nicht mehr aus, fundierte Kennzahlenanalysen zu beherrschen. Er benötigt immer mehr interdisziplinäres Sachverständnis – über Technologie, exogene Faktoren, mögliche Zukunftsszenarien – und vor allem: die Psychologie der anderen Investoren.
Die Macht der Kleinanleger wächst
Denn auch die Teilhabe am Markt verändert sich: Zuletzt meldete das Deutsche Aktieninstitut die höchste Aktionärsquote seit über zwanzig Jahren. Aus diesem Anstieg resultiert ein Machtgewinn der Kleinanleger, der sich bereits 2021 im onlineorganisierten Kräftemessen um die GameStop-Aktie andeutete und Hedgefonds dabei Milliarden kostete. Besonders beliebt bei Privatanlegern, zu denen auch immer mehr junge Menschen zählen, sind Tech-Aktien. Das legen Daten der Analysefirma Vanda Research nahe. Die zunehmende Demokratisierung der Finanzmärkte trifft also auf eine Branche, in der viele Kleinanleger schnelle Profite wittern. Somit gewinnt die öffentliche Meinung darüber, welche Technologie „das nächste große Ding” wird, an Relevanz für den Markt. Neuen Mitentscheidern mangelt es aber an Erfahrung und sie sind tendenziell anfälliger für voreilige Panikverkäufe. Diese begünstigen Kursstürze und können auch durch Stop-Loss-Orders abgesicherte Anleger mitreißen. Es entsteht ein diffuses Umfeld, das zwar Nährboden für Unterbewertungen bietet, aber auch Fragen nach einem möglichen Wiederaufschwung aufwirft – so wie aktuell.
Big Tech mit besseren Aussichten
Anzeichen, dass inzwischen eine Wende erreicht sein könnte, gibt es einige. So haben etwa bereits im Februar viele Tech-Aktien die 200-Tage-Linie wieder überschritten. Auch die Indizes erholen sich langsam – dank nachlassendem Preisauftrieb in den USA. Die Massenentlassungen von Microsoft, Amazon, Meta und Co. mögen für manche Anleger zwar zunächst beunruhigend wirken, können aber als Sparmaßnahmen verstanden werden, die Big Tech resistenter gegen weitere Zinserhöhungen dastehen lassen. Zuletzt hatten rückläufige Konsumausgaben die Konzerne unter Druck gesetzt. Durch Milliardeninvestments in ChatGPT schürt vor allem Microsoft inzwischen positive Zukunftsaussichten. Aufgrund der hohen Preissetzungsmacht zeigt sich auch Apple relativ krisenfest. Für kleinere Unternehmen birgt das aktuelle Umfeld ein größeres Risiko – und somit auch für entsprechende Investments. Die Digitalisierung wird sich davon jedoch nicht aufhalten lassen. Ein weiter steigendes Datenvolumen, vermehrte Cloud-Nutzung und die Notwendigkeit von Cybersecurity gelten als relativ sicher. Entsprechende Titel könnten für Anleger aktuell vergleichsweise günstig zu erstehen sein. Insgesamt ist die Branche dabei, sich immer weiter auszudifferenzieren. Auf Veränderungen des Umfelds können daher ganz unterschiedliche Reaktionen folgen. Noch ist auch die generelle Angst vor weiteren Zinserhöhungen und negativen Konjunkturdaten nicht überstanden, der Inflationsdruck nicht gänzlich überwunden. Ohne unerwartet heftige Eintrübungen dürften die schlimmsten Verluste aber bereits zurückliegen. Für neue Höhenflüge ist es letztlich nur eine Frage der Zeit, bis sich wieder genug Anleger von der Chance auf hohe Renditen locken lassen.
Tim Filzinger
Freier Autor