Perfektionismus – wie können denn 90 % gut genug sein?
09.07.2021
Foto: © Africa Studio - stock.adobe.com
Nach dem Burnout
Es kommt aber noch ein ganz entscheidender Effekt des Perfektionismus hinzu: Es kostet wahnsinnig viel Energie, sich nach allen Seiten abzusichern, immer einen Plan B zu haben und jedes mögliche Problem schon gelöst zu haben, bevor es überhaupt auftaucht. Heute weiß ich, dass der Perfektionismus damals sehr zu meinem Burnout 2011 beigetragen hat. Die Energie war einfach komplett auf dem Nullpunkt – nichts ging mehr. In der Zeit danach haben sich viele Dinge in meinem Leben verändert. Ein ganz wichtiger Punkt dabei war: Ich musste nicht mehr vorgeben, ohne Schwächen zu sein. Mein unbewusstes Ziel war es bis dahin, das Image eines fehlerfreien und perfekt funktionierenden Menschen zu repräsentieren. Eine Fassade, die ich nach meinem Burnout nicht mehr aufrechterhalten musste, denn es war ja jetzt offiziell, dass ich nicht „perfekt funktionierte“. Kaum zu glauben, aber dadurch wurde mir ein Riesendruck von den Schultern genommen. Ich hatte „Schwäche“ gezeigt und das war gut so, denn von da an konnte ich mich viel offener gegenüber anderen verhalten. So funktioniert übrigens Vertrauen: Machst du dich verwundbar, erkennt das dein Gegenüber als Zeichen des Vertrauens und wird ebenfalls offen sein. Daraus erwächst beiderseitiges Vertrauen. Ich habe das immer und immer wieder so erfahren. Auch als Führungskraft habe ich von meinem Burnout und der 5-monatigen Auszeit sehr profitiert. Ich hatte gelernt, dass sich die Welt auch ohne mich weiterdreht. Ich musste nicht in alle Vorgänge involviert sein und bei jeder Entscheidung meine Finger im Spiel haben. So wurde es für mich leichter, die Dinge einfach mal laufen zu lassen und nur einzugreifen, wenn es wirklich notwendig war. Ich fing damals an, mehr als Coach zu agieren – also die Mitarbeiter zu unterstützen, selbst die Lösungen zu finden. Auch wenn es anfangs der schwierigere Weg war, da ich ja die Lösung bereits kannte – zumindest glaubte ich das. Auch Perfektionisten können lernen, dass man nicht alles selbst machen muss, damit es richtig wird. Ich zumindest konnte zunehmend meine coachende Rolle genießen.
Ein bisschen Ursachenforschung
Was soll denn nun überhaupt schlecht daran sein, perfekte Arbeit abgeben zu wollen? Ist es ja nicht – zumindest nicht, wenn du Herzchirurg oder Pilot bist. Gewissenhaft eine Arbeit mit höchster Qualität zu verrichten, ist völlig in Ordnung – wenn es die Sache erfordert. Für den Perfektionisten geht es hier aber um etwas anderes. Er möchte sich mit allen Mitteln davor schützen, Kritik für eine scheinbar ungenügende Arbeit zu bekommen. Das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben und die damit verbundene gefühlte Abwertung gilt es unbedingt zu vermeiden. Wir Perfektionisten sind oft auch nicht gerade mit übergroßem Selbstwertgefühl gesegnet und da tut Kritik besonders weh. Denn die Kritik wird ja sofort persönlich genommen. Oftmals entsteht der Perfektionismus im Kindesalter. In dieser Lebensphase manifestieren sich wahrgenommene Erwartungshaltungen der Eltern sehr schnell als Glaubenssätze, die dann ein ganzes Leben lang Gültigkeit haben. Auch wenn sie in der Gegenwart eigentlich keinen Nutzen mehr haben. „Sei perfekt“ ist so ein Glaubenssatz. Du kannst ja einmal den Antreibertest nach Rüttinger machen. Geht schnell und zeigt dir deine inneren Antreiber auf. Und wie wirken Perfektionisten eigentlich auf das Umfeld? „Perfektion schafft Aggression“ – ein Zitat von Dr. Reinhard K. Sprenger. Klingt erstmal merkwürdig, macht aber viel Sinn, wenn du darüber nachdenkst. Wenn du immer perfekt rüberkommst, kann sich dein Gegenüber minderwertig und unterlegen fühlen. Bestenfalls nötigt Perfektion deinen Kollegen und Mitarbeitern Respekt ab – Sympathie fördert sie nicht. Also: wer Fehler macht, wirkt menschlich und öffnet damit Türen.
Weiter auf Seite 3