Im Dauerumbruch mit hoher Taktzahl
24.04.2023
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So sieht Prof. Dr. Hans-Wilhelm Zeidler der Zeidler Consulting GmbH die Branche und wer, wenn nicht er, sollte da genauestens Bescheid wissen. Der ehemalige Vertriebsvorstand der Zurich sitzt in diversen Aufsichts- und Beiräten. Im finanzwelt-Interview spricht er über die Themen Digitalisierung, Provisionsdeckel, Courtageverbot und ESG in der Versicherungsbranche. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, legt er den Finger in die Wunden der Branche, aber mit Heilungsvorschlägen. Konstruktiv, kreativ und hoffentlich heilsam.
finanzwelt: Herr Prof. Dr. Zeidler, die Branche steht mal
wieder oder immer noch vor einem Umbruch. Was sind
Ihrer Meinung nach die Themen, mit denen sich Versicherer und Vertrieb auseinandersetzen müssen?
Prof. Dr. Hans-Wilhelm Zeidler» Lieber Herr von Stockhausen,
ich denke, wir sind in einem Dauerumbruch mit hoher Taktzahl. Wo haben wir in der Branche denn Pausen zwischen
erwünschten oder geforderten Change-Prozessen? Das führt
ja auch gerade dazu, eine stabile Größe haben zu müssen,
um Schritt halten zu können auf dem Weg in die Zukunft.
Themen, mit denen die Branche sich auseinandersetzen
muss? Eine unhöfliche Frage zurück: Welche Themen können
denn als unveränderbar und abschließend geklärt in einen
Ordner ‚FERTIG‘ geheftet werden?
Das doch wohl nur die,
die ersetzt wurden oder aus anderen Gründen keine Relevanz mehr haben. Dann heften sie im Ordner ‚GESCHICHTE‘.
Nun wäre die Antwort: ‚mit allen lebenden Themen müsse
man sich auseinandersetzen‘, eine ziemlich doofe Antwort.
Meiner Meinung nach haben besondere Relevanz: nach wie
vor die Digitalisierung, die aktuelle Inflations- und Zinsentwicklung, aus neuen Techniken oder Umständen – wie Klima-
wandel – resultierende Risiken und ihre Abdeckung oder das
Reagieren auf regulatorische Anforderungen.
finanzwelt: Wie wird sich die Branche generell darauf einstellen müssen? Oder andersrum gefragt, was passiert
schon hinter den Kulissen?
Prof. Zeidler» Wie Sie schon sagen, HINTER den Kulissen.
Dort werkelt jeder Teilnehmer der Branche mit anderer
Schwerpunktsetzung, unterschiedlicher Intensität und sich
unterscheidenden Ausgangslagen. Dazu kann ich nichts sagen. Grundsätzlich weiß die Branche natürlich um die Probleme, der einzelne Teilnehmer reagiert nach seiner eigenen
Fasson. Das ist ja ein Merkmal unserer Wettbewerbsgesellschaft.
finanzwelt: Ist die einseitige Konzentration auf Techniken
oder Vertriebe nicht ein furchtbarer Irrweg?
Prof. Zeidler» Das kann ich so nicht teilen. Viele betriebswirtschaftliche Faktoren sind endlich, vielleicht alle, aber auf
jeden Fall sind es die Budgets, die eingesetzt werden können
für die Erreichung wirtschaftlicher Ziele. Dann stellt sich die
Frage, wo führen die eingesetzten Mittel am effizientesten
zur Zielerreichung. Der Vertrieb – wie immer er gestaltet ist
– ist und bleibt nun mal die notwendige Nebelschnur zum
Markt. Unsere Produkte müssen wir verkaufen, wir können
sie nicht einfach verteilen. Das ist eine Kenntnis, die uns alle
zum Gähnen animiert, deshalb wundert ja die aktuelle Courtage-Diskussion so sehr. Aber Sie fragten ja auch nach den
Techniken. Ja, der Weg ist vorgezeichnet, dass immer mehr
Kunden bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse ein Serviceniveau erwarten, bei dem die Technik hilft, dieses zu erfüllen.
Hier gibt es natürlich unterschiedliche Leistungsstandards in
der Branche und es wird aus dem Wettbewerb heraus ein
Höher hängen der Anspruchslatte an die Technik geben.
finanzwelt: Zum Thema Digitalisierung kann man ja ganze
Bücher schreiben. Die Transformation ins digitale Zeitalter
ist auch eine der Aufgaben, die beständig weiterschreitet
und nie aufhören wird. Aber was sind Ihrer Meinung nach
die Milestones der nächsten drei bis vier Jahre?
Prof. Zeidler» Erlauben Sie mir, diese Frage aus der Sicht
eines Anwenders zu beantworten. Was nervt, sind Brüche
im IT-System, will heißen, dass es keine homogene Welt der
Bearbeitung gibt. Dass es hier keine Branchenbasis gibt, ist
unverständlich. In vielen Branchen gibt es diese Basis und die
Differenzierung zum Kunden erfolgt über Service, Preis etc.
Und wie steht es mit der Nutzung von KI? Die Branche kann
wie Dagobert Duck im Geld in Daten schwimmen. Meines
Erachtens wird aus diesem Schatz zu wenig gemacht, wäre
aber gern lernbereit beim Gegenbeweis.
finanzwelt: Wie müssen sich denn Vertrieb der Gesellschaften und Makler/Vermittler auf die digitalen Weichenstellungen einstellen?
Prof. Zeidler» Mitmachen.
finanzwelt: Böse gefragt: Braucht es für gewissen Produkte überhaupt noch Makler oder ist das nicht eine Frage
des Produktes, der Qualität eines Produktes und der da-mit einhergehenden qualitativen Beratung?
Prof. Zeidler» Mit Sicherheit haben Sie Recht, wir haben
Produkttypen, die sind wunderbar im elektronischen Vertrieb einsetzbar und sollten auch über diesen Weg verkauft
werden. Für Berater gibt es einen ganz großen limitativen
Faktor – und das ist die Zeit. Diese darauf zu verwenden,
für einfache und auch für Kunden in der Regel gut zu verstehende Produkte Kundenbesuche durchzuführen, scheint mir
betriebswirtschaftlich nicht sehr effizient zu sein. Natürlich
gibt es eine Reihe von guten Gründen, auch für eine Privathaftlichtversicherung ins Auto zu steigen, wie bei einem Erstkontakt oder in Verbindung mit anderen Fragestellungen.
Aber generell würde ich davon abraten. Auch der Handladungswunsch der Kunden zu einem solchen Abschluss hat
sich geändert, hin zu einer direkten Verbindung. Es gibt aber
auch eine bedeutende Anzahl von Produkttypen, die auch
weiterhin einer persönlichen Beratung – jedenfalls für eine
absehbare Zeit – bedürfen. Da kommen wir an qualifizierten
und engagierten Vertreibern nicht vorbei.