Ein Jahr Brexit - und nun?
13.07.2017
Philippe Waechter, Chefvolkswirt von Natixis Asset Management / Foto: © NAM
Die Auswirkungen
Nach dem Referendum ist das Wirtschaftswachstum zunächst durch die schwächere Währung und die niedrigeren Zinsen beflügelt worden. In dieser Phase hat man sich über die Volkswirte lustig gemacht. Ihre pessimistischen Prognosen erwiesen sich nämlich als falsch. Doch diese Volkswirte haben auch stets betont, dass der Wachstumstrend in Großbritannien belastet werden würde – von einem abrupten Einbruch war jedoch nie die Rede.
Seit Anfang 2017 hat sich die Lage aber allmählich verändert. So kam es beispielsweise bei der Entwicklung der Immobilienpreise zu einer Trendwende, denn diese steigen mittlerweile nicht mehr an. Darüber hinaus könnten ausländische Direktinvestitionen in Mitleidenschaft gezogen werden, während die Inflationsrate gleichzeitig bei fast 3% liegt. Darin spiegeln sich die Folgen der oben erläuterten Unsicherheit sowie die Gefahr wider, den Zugang zum EU-Binnenmarkt zu verlieren. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, von welchen Wettbewerbsvorteilen Großbritannien profitieren kann.
Bisher wurden folgende Aussagen gemacht: Der Brexit hat zwar keinen Bruch zur Folge, aber was sich nach der Trennung von der EU alles ändern wird, lässt sich derzeit noch nicht sagen. Worauf soll eine neue Wachstumsstrategie denn basieren? Es gibt keinen besonderen Vorteil, der einen Verlust des Zugangs zum Binnenmarkt auffangen könnte. Auch aus diesem Grund könnten sich internationale Anleger mit Investitionen in Großbritannien zurückhalten. Mit anderen Worten: Mit dem Strategiewechsel haben sich auch die Aussichten für die Wirtschaft des Landes sowie für deren Entwicklung verändert.
Die Verhandlungen und die langfristigen Folgen Jetzt wird das Ganze für Großbritannien richtig kompliziert. In diesem Zusammenhang sind vier Aspekte zu beachten.
1 – Zu Beginn der Verhandlungen wird es um den Beitrag Großbritanniens zum EU-Haushalt gehen. Dieser könnte sich auf rund 60 Mrd. Euro belaufen. Die Einigung über den zu zahlenden Betrag wird richtungsweisend sein.
2 – Die europäischen Unterhändler möchten zunächst die Bedingungen für die Trennung klären, bevor sie über neue Handelsbeziehungen verhandeln. Die EU möchte also zuerst einmal alle Verbindungen kappen, bevor neue Beziehungen geknüpft werden. Auf diese Weise wird der Verlauf des Prozesses zwar nachvollziehbarer, sich für Großbritannien aber verlängern.
Ein weiterer Faktor ist, dass Großbritannien nach dem EU-Austritt nicht mehr von den 759 Verträgen zwischen der EU und dem Rest der Welt profitieren wird. So wird Großbritannien eigenständige Verhandlungen mit diesen Ländern (laut einem Artikel der Financial Times sind es derer 168) aufnehmen und neue Abkommen aushandeln müssen.
Dieser Umstand kann sich als nachhaltiger Schock erweisen, von dem sich Großbritannien nur schwer wieder erholt – zumal Großbritannien nicht ausreichend Ressourcen bereitstellen kann, um alle diese Verhandlungen gleichzeitig zu führen. Mit anderen Worten: Die Handelsbeziehungen werden sich zunächst zur EU sowie anschließend auch zum Rest der Welt hin verlagern. Dies aber wird negative Auswirkungen auf den britischen Arbeitsmarkt haben.
3 – Der Finanzplatz London wird durch die Verhandlungen in Mitleidenschaft gezogen werden. Der „europäische Pass“ sowie der Clearing-Markt für Euro-Geschäfte, der nun in EU-Mitgliedstaaten umziehen muss, wird die Möglichkeiten britischer Finanzunternehmen, in den EU-Ländern tätig zu sein, einschränken. In der Folge wird der Finanzplatz London an Bedeutung verlieren
4 – Der nachhaltige negative Schock sowie der Bedeutungsverlust des Finanzplatzes London werden auch gravierende Folgen für den britischen Arbeitsmarkt haben. Dieser war bisher nämlich von ausländischen Arbeitskräften abhängig. Zwischen 2008 und 2016 kamen 85% der neuen Arbeitskräfte aus Ländern außerhalb Großbritanniens, und seit 2014 werden über 50% der neuen Arbeitsplätze von nicht-britischen Europäern geschaffen.
Mit anderen Worten: Das mäßigere Wirtschaftswachstum sowie ein nicht mehr so dynamischer Finanzsektor werden für Unsicherheit sorgen und die nicht aus Großbritannien stammenden Arbeitnehmer dazu veranlassen, das Land zu verlassen. Viele dieser Arbeitskräfte sind jedoch gut ausgebildet und haben entscheidend zu dem kräftigen Wirtschaftswachstum und der jüngsten Konjunkturerholung in Großbritannien beigetragen. Wachstum hängt jedoch stets auch vom Humankapital ab. Deshalb werden die Arbeitnehmer, die nach Paris, Frankfurt oder anderswohin zurückgehen, das Wachstum an ihrem neuen Standort ankurbeln – aber nicht mehr in Großbritannien. Meiner Meinung nach stellt dieser Umstand das größte Problem für die britische Wirtschaft dar, weil dadurch die Basis des Wachstumsmodells geschwächt wird.
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