Egal, ob der Brexit kommt oder nicht, Brüssel hat ein ernstes Problem
28.06.2016
Robert Halver
Argument 3: Britische Hängepartie schädlich, aber ein Zeitgewinn ist auch im Interesse der „Rest-EU“ Der Brexit sorgt einerseits natürlich für politische und finanzwirtschaftliche Verunsicherung, da man nicht weiß, wie es weitergeht. Andererseits, käme es jetzt Ruck Zuck zum Brexit, wäre die „Austreteritis“ ein Eisen für EU-feindliche Parteien, das man schmieden muss, solange es politisch heiß ist. In den Niederlanden reichen 300.000 Unterschriften, um ein nationales Referendum einzuleiten. Auch in Dänemark und Italien ist die Neigung für Europa-feindliche Abstimmungen hoch. Und so hat auch Bundeskanzlerin Merkel keine Eile, die Briten schnell vom EU-Hof zu jagen. In ihrer unnachahmlich nach allen Seiten offenen - Entschuldigung, flexiblen - Art will sie den Brexit aus den Schlagzeilen und aus den Köpfen der Europäer entfernen. Die Kanzlerin will überhaupt erst mit Großbritannien über Brexit reden, wenn die offizielle Austrittsmitteilung aus London vorliegt. Was hart klingt, ist nicht hart gemeint. Was sie sagen will, ist: Lass Dir Zeit David, weil ich Zeit brauche! Gras soll über die Brexit-Sache wachsen. Ruhe im EU-Karton und an der deutschen Exportfront sind ihr viel näher als der Hosenanzug. Im Übrigen weiß sie, dass Deutschland nach britischem Exodus zur noch stärkeren Führungsmacht in der EU aufsteigen würde. Aber sie weiß auch, dass Deutschland dort nicht unbedingt everybody’s darling ist. Und eindeutig legt sie Wert darauf, einen marktwirtschaftlichen Verbündeten gegen die schuldenverliebten, stabilitätslosen Brüder und Schwestern in der EU irgendwie zu behalten gemäß dem Motto „Freiheit statt Sozialismus“. Selbstverständlich ist man in der EU not amused über den Brexit. Man ärgert sich schwarz über diese unnötige, neue politische Großbaustelle. Um die Wogen aber (finanz-)wirtschaftlich zu glätten und um zumindest eine stabile politische Seitenlage hinzubekommen, könnte die EU Großbritannien eine Art „privilegierte Partnerschaft“ gewähren, die die Handels- und Finanzbeziehungen auf eine stabile Grundlage stellt. Allerdings darf dieser Deal nicht so aussehen, als ob Großbritannien auch noch für sein Ausstiegsvotum belohnt würde. Dann könnte man den Brexit zeitlich weit nach hinten schieben. Bei den Londoner Buchmachern wird es demnächst eine neue Wette geben. Was passiert zuerst? Die Griechen zahlen ihre Schulden zurück oder die Briten treten aus der EU aus? Überhaupt wird die EZB mit Argusaugen die Entwicklung der Staatsanleiherenditen in den Euro-Staaten beobachten. Sollte der britische Austritts-Virus wie BSE auch andere mögliche Aussteigerländer oder Banken befallen, wird die EZB ihr geldpolitisches Breitbandantibiotikum noch großzügiger verteilen. Sie wird versuchen, alle Finanz- und Bankenprobleme in Liquidität zu ertränken. Eine Schubumkehr der bislang gefallenen Renditen und damit eine neue Staatsschuldenkrise darf es nicht geben. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass die Fed das Wort Zinserhöhung aus ihrem Duden entfernt hat. Niemand wird Öl in das lodernde Feuer der finanzwirtschaftlichen Unsicherheit gießen. Brüssel, schau nicht auf das Problem der EU, du bist das Problem der EU Das Brexit-Votum bringt es ähnlich gnadenlos ans Licht wie die Sonne ungeputzte Fenster: Die EU ist in einer schweren Krise. Man konnte die Familie nicht zusammenhalten. Die Brüsseler Eurokraten mögen jetzt als Verteidigung einwenden, dass die Briten selbst das Referendum angezettelt haben. Und man verweist ja auch immer wieder gern auf die „Wertschätzung“ Europas durch viele Engländer, die mit Kopf- und Bauchschmerzen gleichzusetzen ist. Und viele Unverbesserliche auf der Insel glauben immer noch an die Wiedergeburt des British Empire wie Kleinkinder an das Christkind. Doch Brüssel kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Plan- statt Marktwirtschaft, die zentral von Brüssel gesteuert wird, erinnert eher an sozialistischen Dirigismus und ist nicht geeignet, warme europäische Sympathien auf der Insel oder sonst wo in der EU aufkommen zu lassen. Um nationale Anliegen hat sich kein Eurokrat zu kümmern. Brüssel muss nicht überall seine Nase reinstecken. Und auch wenn es mittlerweile langweilig klingt: Ohne Reform- und Wettbewerbsfähigkeit gehen wir weltkonjunkturell vor die Hunde. Und dass aus der Europäischen Stabilitätsunion und Wertegemeinschaft eine Romanische Schuldenunion und ein Egoistenverein geworden sind, sorgt für ähnliche Freude wie ein Besuch des Gerichtsvollziehers. Dazu kommt die Unfähigkeit, EU-Staatsgrenzen zu schützen, Migration Europa-einheitlich anzupacken und eine einheitliche Terrorabwehr hinzubekommen. Stattdessen gibt es in all diesen Bereichen nationale Alleingänge. Und auf die undurchsichtigen und damit undemokratischen Kungeleien in Hinterzimmern, um irgendwie stinkende Kompromisse zu erzielen, hat auch kein EU-Bürger mehr Lust. An all diese Punkte muss man ran, wenn man es zukünftig mit Europa ernst meint. Haben die EU-Politiker etwas aus dem Votum der Briten gelernt? Wer jetzt nur mit dem Motto „Mehr Europa wagen“ um die Ecke kommt, also mehr Europäischen Einheitsstaat anmahnt, hat nichts begriffen. Mehr Europäische Integration und eine vertiefte Eurozone sind theoretisch großartige Sachen, werden aber in der Praxis mindestens zurzeit abgelehnt. Wenn Politiker jetzt behaupten, man habe die Europäer von den Vorzügen der EU noch nicht überzeugen können, ist das kabarettreif. Sie hatten ihre Chance, nein viele Chancen. Das Volk ist nicht dumm, sondern hat ein feines Gespür für Dinge, die in und um die EU falsch laufen. So wie die Sonne sich nicht um die Erde dreht, drehen sich die Bürger nicht um Politiker. Umgekehrt muss es sein. Wer dennoch weiterhin Selbstgerechtigkeit an den Tag legt, hat in der EU-Politik nichts zu suchen und sollte den Platz frei machen. Mit erfolglosen Trainern in Fußballvereinen macht man es genauso. So ist der englische Fußballtrainer zurückgetreten. Rücktritte auf EU-Ebene würden den EU-Bürgern klar machen, dass man verstanden hat. Doch bei vielen in Brüssel scheinen die Ohropax besonders fest zu sitzen, sie sind politisch auf beiden Ohren taub. Mit ihnen ist aber kein EU-Staat zu machen. Sie riskieren auch den Euro. Ihr Exit ist nötiger als der Brexit. Bevor man den EU-Dampfer auf neuen Kurs bringt, müssen die alten Kapitäne und Offiziere von Bord. Wer nicht mit der Zeit geht, sollte mit der Zeit gehen!
Autor: Robert Halver, Baader Bank