Vom Nachzügler zum Outperformer?
20.10.2021
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Europa ist kein einheitliches Gebilde. Von Stockholm bis Sizilien liegen nicht nur tausende Kilometer, sondern in erster Linie auch kulturelle Unterschiede. Längere Zeit standen die europäischen Aktienmärkte insbesondere im Schatten der USA. Jetzt könnte sich das Blatt wenden. Insofern sollten Berater durchaus einen Blick darauf werfen, wenngleich auch die möglichen Gefahrenherde nicht außer Acht lassen.
An einem runden Tisch versammeln sich 27 Personen. Einigkeit hierbei zu erzielen ist, angesichts der Partikularinteressen, weiß Gott keine einfache Angelegenheit. Allein schon einen Konsens aller Beteiligten zu erreichen, verlangt viel ab. So ist es in der Europäischen Union mit ihren 27 Mitgliedstaaten. Deutschland ist mit mehr als 80 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste EU-Staat, gefolgt von Frankreich, Italien und Spanien. Die pedantischen Deutschen und die Espresso schlürfenden Italiener. Was für ein Gegensatz. Doch gelegentlich ziehen sich widerstrebende Kräfte gegenseitig an. Nach der Pandemie, die die Europäische Union doch schmerzhaft getroffen hat, sind manche Vorzeichen für die kommenden Monate wieder auf grün. So ist das Bruttoinlandsprodukt im 2. Quartal in der Eurozone um 14,3 % und EU-weit um 13,8 % im Vergleich zum Vorjahresquartal gestiegen. Gegenüber dem 1. Quartal ist das ein Anstieg um 2,2 bzw. 2,1 %. Man gewinnt den Eindruck, die europäische Wirtschaft nimmt wieder an Fahrt auf. Haben demzufolge europäische Märkte das Potenzial, den davon gelaufenen US-Werten, insbesondere Tech-Aktien, etwas den Rang abzulaufen?
Ersetzt Europa die USA?
„Wir bleiben konstruktiv für europäische Aktien, starke oder leicht abgeschwächte Wachstumsaussichten sollten in Ordnung sein. Vielerlei Gründe sprechen dafür: Zum einen steht die EZB weniger unter Druck, ist aber immer noch sehr akkomodativ, besonders im Vergleich zur US-Notenbank FED, die wesentlich vorsichtiger ist. Außerdem sind die Unternehmensergebnisse sehr positiv gewesen und starke Konsumenten treiben die Nachfrage, die zusätzlich unterstützend wirkt. Zudem sind die Bewertungen und die Dividendenrendite attraktiv im Vergleich zu Anleihen angesichts der allmählichen restriktiveren Maßnahmen der Zentralbanken“, konstatiert Frédéric Surry, Deputy Head of Equity bei BNP Paribas Asset Management. Silvia Dall‘Angelo, Senior Economist bei Federated Hermes bemerkt in diesem Kontext, dass die Wirtschaftsaktivität in den Industrieländern im August weiter an Schwung verloren haben, gleichwohl bewegten sich die Daten immer noch auf einem recht hohen Niveau, was mit einem überdurchschnittlichen Wachstum in den USA, Groß-Britannien und der Eurozone einhergeht. „Interessanterweise zeigen die Zahlen nun eine Aufholjagd, da die Eurozone so stark ist“, so Dall’Angelo. Etwas skeptischer zeigt sich Geoffrey Goenen, Head of Fundamental European Equity bei Candriam. Für ihn besteht das Hauptrisiko für den Aktienmarkt darin, dass die Inflation auf oder über dem derzeitigen Niveau bleibe und die Zinssätze der 10-jährigen Anleihen zu sehr ansteigen. Dies würde sich letztlich auf den Aktienmarkt auswirken. Insofern kein Freifahrtschein für Europa. Chancen sind vorhanden, allerdings eher nicht im breiten Markt. Ein Pauschalurteil zu europäischen Aktien ist an dieser Stelle nicht angebracht. Gut prüfen und richtig auswählen ist das Gebot der Stunde. Denn der europäische Kontinent ist auch Keimzelle vieler Hidden Champions – gelegentlich Weltmarktführer in der Nische. Stockpicking kann bei europäischen Werten zum gewünschten Erfolg führen. Und die Risiken, mögen Sie sich nun fragen? Tatsächlich gibt es in Europa einige ungelöste Problemfelder, die auch während und nach der Corona-Zeit verstärkt zutage treten. Ein erneutes Aufflammen des Handelsstreits zwischen den USA und China könnte das Geschäft europäischer Firmen belasten. Auch die Staatsverschuldung ist im Blick zu behalten. So waren die EU-Länder zum Ende des 1. Quartals im Durchschnitt mit rund 93 % der Wirtschaftsleistung verschuldet, die Mitglieder der Euro-Zone durchschnittlich mit rund 101 % des BIP (Quelle: de.statista.com). Auch Deutschland, gepriesen als Musterschüler, ist immerhin mit mehr als 70 % in Relation zum BIP verschuldet. Gleichwohl gilt, dass die zentrierte Betrachtung auf Europa nur bedingte Aussagekraft hat. Denn die Staatsverschuldung der USA, die weltgrößte Volkswirtschaft, ist mit mehr als 120 % in Relation zum BIP noch gigantischer. Insofern ein leichter „Vorteil“ für den europäischen Kontinent.
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