„Verflucht, alle zerren an mir!“
29.07.2024
Nikola Doll. Foto: www.doll-beratung.de
Je komplexer die Strukturen der Zusammenarbeit in einem Unternehmen sind, mit umso mehr Anforderungen werden dessen Führungskräfte konfrontiert. Und umso schneller verdichtet sich bei ihnen das Gefühl „Alle zerren an mir“. Wie können Führungskräfte diesen Druck analysieren und reduzieren, ohne ihre Identität zu verlieren? Ein Gastbeitrag von Führungskräfte-Trainerin und -Beraterin Nikola Doll.
„Alle zerren an mir.“ Das sagte kürzlich der Bereichsleiter eines mittelständischen Unternehmens – nennen wir ihn Hans Huber – während einer Coachingsitzung zu mir. „Wer sind alle?“, fragte ich ihn und protokollierte seine Aussage in einer Zeichnung. Anschließend übergab ich sie ihm mit den Worten „Das sind Ihre Auftraggeber“ (siehe Grafik 1).
„So viele. Das war mir nicht bewusst“, sagte Huber daraufhin nachdenklich. „Aber es ist schon so. Es werden immer mehr. Deshalb fällt es mir immer schwerer, meine persönliche Linie zu bewahren.“
Auf dem Schreibtisch türmen sich die Aufgaben
Dann schilderte er mir, welche Aufgaben fast täglich auf seinem Schreibtisch landen. Mitarbeiter erwarten eine Entscheidung. Externe Partner und Dienstleister wollen wissen, wie es weiter geht. Der Vorstand und die Anteilseigner der Firma wünschen einen Investitionsplan. Führungskräfte bitten ihn, einen Konflikt zu klären. Die Bank lädt zu einem Gespräch über den Geschäftsverlauf ein. Schlüsselkunden fordern „bessere“ Konditionen. Die benachbarte Schule wünscht Praktikumsplätze für ihre Schüler. Die IHK möchte ihn als Teilnehmer an einer Podiumsdiskussion zum Thema „Führung im Kontext von KI“ gewinnen.
Der eigene Anspruch bleibt auf der Strecke
Und irgendwo zwischen all diesen Aufgaben und Anforderungen, die es zu erfüllen gilt, liegt ein Blatt mit persönlichen Notizen von Huber. Diese machte sich der Bereichsleiter im letzten Urlaub, als er an einem Abend reflektierte, mit welchen Ansprüchen er ins Berufsleben gestartet ist.
Huber wollte Erfolg haben. Dabei wollte er jedoch „sich treu“ und „menschlich“ bleiben. Und was wurde daraus? Huber ist erfolgreich – zweifellos! Doch zu welchem Preis? Im Arbeitsalltag zeigt er kaum Emotionen. Taffe Gespräche gelten als seine Stärke. Für persönliche Worte bleibt kaum Zeit. Und nicht selten muss Huber auch Mitarbeitern kündigen und mit ihnen über ihre Abfindung feilschen – professionell und routiniert, doch zuweilen bis an die Grenze der Fairness.
Huber begreift dies als Teil seines Jobs. Trotzdem fühlt er sich oft nicht wohl dabei, denn das Scheitern der Mitarbeiter ist häufig nicht nur ihr Fehler. Er hätte sich mehr – auch im Homeoffice – um sie kümmern müssen; er hätte ihnen häufiger ein Feedback geben und zum Teil früher intervenieren sollen. Doch woher die Zeit nehmen?