"KI und Robotik gehen Hand in Hand"

09.10.2019

Dr. Gunnar Dolling, Leiter top.Schaden bei der HDI Versicherung AG / Foto: © Talanx

Interview mit Dr. Gunnar Dolling, Leiter top.Schaden bei der HDI Versicherung AG

Welches Problem löst die neue Software?

Jedes Jahr erreichen sechs Millionen Dokumente unsere Schadenabteilung, beispielsweise Werkstattrechnungen. Das sind häufig komplexe, uneinheitlich strukturierte Dokumente. Während bei Rechnungen teilweise spezialisierte Dienstleister unterstützen, müssen viele andere Dokumente wie Briefe zur Schadenmeldung und -beschreibung noch manuell verarbeitet werden. Wir wollen diesen Prozess im Sinne der Kunden beschleunigen, indem wir viele Dokumente nun selbst automatisiert verarbeiten.

Wie kann man sich das konkret vorstellen?

Das hieße, dass man alles, was im Schreiben steht, als strukturierte Daten vorliegen hätte. Die Maschine überprüft dann, ob beispielsweise eine Werkstattrechnung stimmt. Zahlungsinformationen können ausgelesen, Adressdaten automatisch aktualisiert und korrekte Kostenvoranschläge direkt an Dienstleister weitergeleitet werden.

Eine Klassifizierung nach Schlagworten wäre dafür bei Weitem nicht ausreichend. Wir werden den Prozess intelligent automatisieren, indem wir Machine Learning nutzen. Das bedeutet, dass die Algorithmen selbstständig lernen und durch Feedback immer besser werden.

Wie kam es zur Zusammenarbeit mit WorkFusion?

Um die beste Lösung zu finden, haben wir einen globalen Wettbewerb durchgeführt. Verschiedene Anbieter haben ihre Software mehrere Wochen lang mithilfe anonymisierter Kunden-Datensätze trainiert. Dann wurde getestet. Der Sieger war WorkFusion. Sie haben ein Modell trainiert, das die bisherige Produktivität in der Dokumentenklassifikation direkt verdreifachte. Außerdem hatten wichtige Attribute bereits eine Genauigkeit von fast 100 %. Die Software hat beispielsweise korrekt erkannt, dass eine Rechnung innerhalb von 30 Tagen bezahlt werden muss – eine Information, die manchmal sogar bei der Bearbeitung durch den echten Menschen verloren geht. Das hat uns positiv überrascht.

Wie genau arbeitet die Künstliche Intelligenz?

Zuerst muss man das System trainieren. Dafür wird die Maschine mit korrekt klassifizierten Dokumenten gefüttert. Unsere Sachbearbeiter haben in hunderten Dokumenten einzelne Daten wie Adressen und Telefonnummern händisch markiert. Diesen Daten wurde zugeordnet, was die Software damit machen soll. Dann übernimmt die Maschine: Sie erfasst die Daten, überlegt, wie es zu der Klassifizierung kommt und entscheidet selbst, wie sie mit neuen Informationen umgehen muss. Das funktioniert auch mit Daten, die vielleicht etwas anders als gewohnt strukturiert sind. Die Maschine lernt und verbessert sich kontinuierlich selbst.

Wo setzen Sie die Software ein?

Geplant ist der Einsatz zunächst bei der Kfz-Glasrechnung. Hier gab es auch schon einen erfolgreichen Proof of Concept: Kollegen aus der Indizierung Kraftfahrt, Data Analytics, Prozesse und Technik, IT und WorkFusion haben dafür intensiv zusammengearbeitet und den Glasprozess innerhalb weniger Wochen automatisiert. Im Testszenario konnten die Dokumente damit dreimal schneller als bisher bearbeitet werden.

Was ist das Besondere an der neuen Lösung?

Wir haben hier die intelligente Automatisierung eines kompletten Prozesses. Alles passiert in nur einer Software, die als Gesamtsystem intelligente Entscheidungen treffen kann – und nicht in Einzelkomponenten. KI und Robotik gehen damit erstmals Hand in Hand. Es ist Automatisierung 4.0 – weil die KI-Plattform End-to-End-Entscheidungen treffen kann, auch bekannt unter Intelligent Process Automation (IPA). Am Anfang waren wir skeptisch aufgrund der Komplexität der Rechnungen und des zu bedienenden Schadensystems, jedoch haben wir schnell gesehen: Es funktioniert wirklich.

Wie geht es mit dem Projekt weiter?

Für uns war es wichtig, nicht einfach eine Software einzukaufen. Wir gehen mit WorkFusion eine strategische Partnerschaft ein. Wir entwickeln die Software gemeinsam mit WorkFusion weiter und sind dabei, herauszufinden, wie man sehr schnell viele Prozesse automatisiert. Der Plan ist, für einen Prozess von der Idee bis zur Produktion unter vier Wochen zu bleiben. Verschiedene Talanx Tochtergesellschaften weltweit haben Interesse bekundet, die Software ebenfalls einzusetzen. Für HDI in Deutschland planen wir eine schnelle Skalierung und möchten im Laufe des kommenden Jahres bereits einen großen Teil der Prozesse in Schaden mit der neuen Lösung teilautomatisieren. (ahu)