Investmentethik: Das Wertvolle messbar machen, statt das Messbare wertvoll!

09.12.2024

Oliver Fischer. Verwaltungsratspräsident, Leiter Marktleistung und Partner bei Arete Ethik Invest. Foto: @ Arete Ethik Invest

Die Vorsitzende des PRIME VALUES Ethik Komitees, Tanja Krones, Alexandra Kroll, Mitglied des Ethik Komitees und die Ethik-Analystin Marlene Waske haben sich bereits vor einiger Zeit mit der Quantifizierung von ESG beschäftigt, diese Gedanken aufgeschrieben und mit mir geteilt. Oliver Fischer, Verwaltungsratspräsident, Leiter Marktleistung und Partner bei Arete Ethik Invest, möchte diese differenzierte Auseinandersetzung mit einem Gedankenprotokoll weitergeben.

Dr. Marlene Waske, Dr. Alexandra Kroll und  Prof. Dr. med. Tanja Krones.<br>Dr. Marlene Waske, Dr. Alexandra Kroll und Prof. Dr. med. Tanja Krones.

Die Einschätzung, dass Nachhaltigkeitsfonds ein Nischenprodukt sind, klingt heute ähnlich überholt wie die Prognose des IBM Chefs Thomas J. Watson im Jahr 1943, dass es weltweit einen Bedarf von etwa fünf Computern gäbe. Der Marktbericht des Forums Nachhaltige Geldanlagen bezifferte die Summe nachhaltiger Investments Ende des Jahres 2023 allein in Deutschland auf gut 542 Milliarden Euro – mehr als das nominale Bruttoinlandsprodukt von Schweden!

„Triefend schwarz“ statt „nachhaltig grün“

Diese enorme Nachfrage lockte allerdings auch Produkte auf den Markt, die bei genauerem Hinsehen eher zur Kategorie „triefend schwarz“ statt „nachhaltig grün“ zu gehören scheinen. Die EU hat es sich daher zum Ziel gesetzt, die Bezeichnung „nachhaltig“ genau zu definieren. Um wie Aschenputtel nun Linsen (braun) von Erbsen (grün) zu trennen, muss man Finanz-Produkte in Ermangelung einer natürlichen Färbung zunächst einmal vergleichbar machen. Und das, bitteschön, objektiv und mit Sicherheit jeder juristischen Prüfung standhaltend.

Im Newsletter von FONDS professionell stand dazu aus der Feder von Chefredakteur Bernd Mikosch am 1. November 2024 zu lesen wie folgt: „Die Begeisterung für die nachhaltige Geldanlage hat spürbar nachgelassen, bei den Asset Managern genauso wie bei den Anlegern. Zu groß war die Enttäuschung über die zeitweise frustrierende Wertentwicklung vieler Fonds, zu dominant die Debatte über Greenwashing. Tot ist dieses Segment jedoch keineswegs – vielmehr hat es sich als feste Größe auf dem Investmentmarkt etabliert. Das zeigt auch der jüngste Marktbericht des Forums Nachhaltige Geldanlagen (FNG). Der Fachverband vermisst seit dem Jahr 2005 den Markt der Öko- und Ethikinvestments in der DACH-Region. In der Bilderstrecke oben dokumentiert FONDS professionell ONLINE ausgewählte Ergebnisse der jüngsten Studie für Deutschland. Beteiligt haben sich 62 Unternehmen, vor allem Asset Manager, Nachhaltigkeitsbanken und institutionelle Investoren.“

Weder tot, noch erledigt

Das fasst es grundsätzlich gut zusammen. Das Thema ist weder tot noch erledigt, lediglich etwas abgekühlt, nicht zuletzt auch wegen einer abschreckenden Regulatorik, politischen Ereignissen und damit verbundener Verunsicherungen inkl. eines veränderten Mindsets bspw. bei der Beurteilung von Waffen und Rüstung und sicher auch dem Ausnahmejahr 2022, in dem Nachhaltige Investments massiv unter Druck standen, da die sicheren Häfen und Investmentthemen für eine positive Performanceentwicklung wegbrachen. An der grundsätzlichen Notwendigkeit, Geldern eine klimafreundliche Richtung zu geben, hat sich allerdings nichts geändert.

Wir haben von vielem zu viel

Aus dem westeuropäischen Gesellschaftsdiskurs haben wir gelernt, dass wir von vielem zu viel haben (Treibhausgase, Körperfett, Kleidungsstücke) und von einigem zu wenig (Frieden, Gleichheit, Wertschätzung). Will man das eine erhöhen und das andere verringern, scheint es nur intuitiv, sich quantitativer Indikatoren zu bedienen: mit Sicherheit kann man vergleichen 3 > 1; 5 < 7.

Objektiv sind diese Zahlen auch: ganz gleich, was meine politische Einstellung, meine Moral oder mein Gehalt, es gilt: 5 < 7. Es wundert also nicht, warum die EU Nachhaltigkeit entlang quantitativer Daten definieren möchte. Dafür hat sie nicht nur ein umfassendes Regelwerk zur Berichterstattung von Finanzprodukten erlassen, sondern definiert in ihrer Taxonomie – einer Art Katalog wirtschaftlicher Aktivitäten – gleich selbst, wie Nachhaltigkeit in Umsätzen oder Investitionsausgaben zu messen ist.

So einleuchtend, so komplex! Denn: nachhaltig ist, was „die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, da[ss] künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“. So beschrieb der Brundtland-Bericht im Jahr 1987 die bis heute wohl gängigste Definition von Nachhaltigkeit. Doch spätestens seit Abraham Maslow wissen wir, dass Bedürfnisse vielschichtig sind. Sie sind wandelbar, sie sind von individuellen Wertvorstellungen genauso beeinflusst wie von gesellschaftlichen Normen und das in einem globalen Kontext. Welcher Umsatz eines Unternehmens heute trägt wohl dazu bei, dass Ihre Enkel übermorgen einmal ihr Bedürfnis nach Selbstverwirklichung oder Sicherheit befriedigen können?

E, S und G (oder einfach nur „für das Menschsein“)

In der Praxis hat es sich bisher durchgesetzt auf drei Buchstaben abzustellen: E, S und G. Hinter ihnen verbergen sich die englischen Begriffe für ökologische und soziale Aspekte (Environment und Social) sowie die Grundsätze guter Unternehmensführung (Governance). Und zumindest die ökologische Dimension scheint auf den ersten Blick quantitativ fassbar: der Ausstoß von Treibhausgasen kann (in der Theorie) gemessen werden, auch wenn er (in der Praxis) wohl weitaus öfter geschätzt wird. Ähnlich verhält es sich mit Abfallmengen oder dem Verbrauch von Energie. Und so ist es wohl kein Zufall, dass es die Umweltziele sind, die bereits jetzt in der Taxonomie ausführlich definiert sind. Diese Quantifizierung vermittelt Sicherheit, Vergleichbarkeit, Objektivität.

Doch allein das man etwas messen kann, heißt noch nicht, dass das, was man misst, Sinn ergibt, oder wirklich „für das Menschsein“ gut ist.

„Wer viel misst, misst Mist“

Diesen Satz lernen Medizinstudierende bereits am Anfang des Studiums. Wer als medizinischer Laie schon einmal einen Blick auf seine eigenen Blutwerte geworfen hat – mit all ihren rätselhaften Einheiten, Grenzwerten und Buchstaben nicht-lateinischer Alphabete – den mag diese Sicht auf die moderne Medizin überraschen. Laborwerte, Röntgenbilder, ein statistisch abweichender Blutwert und selbst Effektstärken aus großen Studien reichen nie allein aus, um inhaltlich und individuell sinnvolle Behandlungsentscheidungen zu treffen. Expertenwissen wie auch die individuelle Krankengeschichte sind für das Verständnis von Gesundheit und Krankheit wichtig. Medizin ist im Kleinen wie im Großen - auf der individuellen wie auf der Ebene der öffentlichen Gesundheit - auch eine soziale Wissenschaft. Daher sind auch der künstlichen Intelligenz Grenzen gesetzt, die in manchen klinischen Bereichen wie der Radiologie sehr nützlich ist, die aber letztlich allein Korrelationen finden und Muster bewerten kann. Die evidenzbasierte Medizin beruht auf der Integration kritisch reflektierter Studien, je nach Fragestellung basierend auf qualitativen oder quantitativen Forschungsansätzen, dem „Expertenwissen“ des Behandlungsteams ebenso wie auf den Präferenzen und Wertvorstellungen der Patienten.

Nun steht in der Medizin der Mensch im Zentrum, und dieser folgt bekanntlich keinen Naturgesetzen, sondern seiner sehr begrenzten Vorstellungskraft. Wen wundert es, dass das Messen dort nicht allein zum Ziel führt?

Man sollte aber meinen, wenn man sich der Chemie zuwendet, dann müsste es gelingen ein „gut oder schlecht“ für Mensch und Umwelt zu quantifizieren. So auch der Ansatz in der EU Regulatorik, unter deren „wichtigsten nachteiligen Nachhaltigkeitsauswirkungen“ auch Chemikalien gewissenhaft gemessen werden sollen. Wird das dazu beitragen, dass unsere Umwelt, von der unser Überleben abhängt, sich erholt? Die Chemikalienregulierung in der EU begann bereits in den 1960er Jahren.

Seitdem wurden mehrere Richtlinien und Verordnungen erlassen, um die Sicherheit von Chemikalien besser zu gewährleisten und die Umwelt zu schützen. Beispielsweise eine Risikobewertung von Einzelsubstanzen, die jedoch die Komplexität der exponierten Umwelt nicht berücksichtigt. So stellte die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit fest, dass es nicht möglich ist zu verifizieren, ob die aktuell in der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln verwendeten Modelle tatsächlich dazu beitragen, Ziele des Umweltschutzes zu erreichen. Substanzen mussten so aufgrund von nachträglich festgestellten schädlichen Auswirkungen in der Umwelt wiederholt zurückgezogen werden.

Durch die Komplexität der Ökosysteme und durch die Mischungen der Substanzen in der Umwelt besteht ein unbekanntes Risiko-, Zulassungs- und Überprüfungsprozesse bleiben träge, zugleich werden Artenrückgänge und Populationseinbrüche beobachtet. In Wildtieren finden sich zunehmend anthropogene Stoffe – trotz peniblen Messens, trotz ausufernder Regulatorik. Die quantitative Begrenzung von einzelnen Substanzen wie Nitrat, Phosphat, oder auch Feinstaub hat in einigen Ländern Verbesserungen z.B. der Wasser- und Luftqualität erreicht. Eine quantitative Risikobewertung von Einzelsubstanzen bedeutet aber auch, dass durch die Komplexität der Ökosysteme und durch die Mischungen der Substanzen in der Umwelt weiterhin ein unbekanntes Risiko besteht.Emissionen von Nitraten, Phosphaten und Pestiziden sind Teil der „wichtigsten nachteiligen Nachhaltigkeitsauswirkungen“ der EU Sustainable Finance Regulatorik, die von Unternehmen erfasst und von Asset Managern, die in diese Unternehmen investieren, zu berichten sind. Vielleicht werden wir wissen, wie viele Tonnen dieser Stoffe am Ende des Jahres in Gewässer, Luft und Boden gesickert sind. Es wird uns ein gutes Gewissen geben, dass wir ihnen Beachtung bei unseren Investitionen schenkten. Was diese Stoffe dort anstellen, werden wir nicht wissen, denn den Kontext, in dem sie wirken - heute, morgen, in fernster Zukunft – kennen wir nicht. Ob Mensch oder Molekül: trotz standardisierter, quantitativer Bewertung ist nicht messbar, ob geschützt wird, was geschützt werden soll.

Das „S“(„sozial“) in der Abkürzung ESG ist nicht minder schwer zu erfassen: es folgt noch nicht einmal ansatzweise irgendwelchen Naturgesetzen. Beispiel Diversität. Sie bedeutet Vielfalt der Identitäten, ob nun in Bezug auf Geschlecht, Ethnie oder andere soziale Kategorien.

Mit Identitäten verhält es sich wie mit Bedürfnissen: sie sind vielschichtig, sie sind wandelbar. Und darüber hinaus sind sie schwer zu erkennen. Denn es geht eben nicht darum, dass Menschen aufgrund äußerlich erkennbarer Merkmale einer bestimmten Gruppe angehören. Identität fühlt man; man wird ihr nicht von anderen zugeordnet. Bis auf den Indikator Board Gender Diversity kommt sie in der Liste der „wichtigsten nachteiligen Nachhaltigkeitsauswirkungen“ bisher nicht vor. Bedeutet das aber, dass sie nicht bei einem nachhaltigen Finanzprodukt mitgedacht werden sollte? Wohl kaum.

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