Die Zukunft provozieren

19.12.2018

Karl-Heinz Land / Foto: © Nathan Ishar

Drei Paradigmenwechsel

Dematerialisierung besagt, dass sich physische Produkte in Software und Apps verwandeln. Dass Sparbücher heute so gut wie nicht mehr existieren, ist nur eine der harmloseren Auswirkungen dieses übersehenen Megatrends. Vielmehr schließen landauf, landab Banken ihre Filialen. Laut KfW-Research wurde seit dem Jahr 2000 jede vierte Bankfiliale geschlossen. Bundesweit sind bereits 10.200 Standorte verschwunden. Im Moment gibt es in Deutschland noch ungefähr 1.600 unabhängige Bankinstitute. In zehn Jahren, heißt es, werden es noch 150 Banken sein. Diese Entwicklung rückt den noch vor ein paar Jahren verbreiteten Rat vieler Eltern – „Kind, geh zur Bank, dort hast du einen sicheren Job“ – in ein völlig neues Licht. Auch die Disaggregation ist ein Phänomen, das sich anhand der Finanzbranche perfekt beschreiben lässt. Grundsätzlich beschreibt es den Prozess, Produkte jeder Art aufzulösen und modular sowie anbieterübergreifend wieder zusammenzusetzen. So neigen sich die Zeiten, in denen ein Kunde seine Anlageprodukte bei einer Bank kauft und dann brav mit dem Berater immer wieder über Stand und Optionen spricht, dem Ende zu. Der Anleger der Zukunft ist smart – nicht, weil er plötzlich Aktien- und Rentenmärkte durchschaut, sondern weil Künstliche Intelligenz, Plattformen und die Blockchain für ihn arbeiten. Darin steckt für Geldhäuser eine Riesenchance, wenn sie es schaffen, den Anlegern und den Unternehmen ein Geschäftsmodell anzubieten, das individuell auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. Die Zusammenarbeit zwischen tradierten Geldhäusern (die Technologie und Ideen brauchen) und FinTechs (die Ideen haben, aber Zugang zu Kundengruppen benötigen) ist dafür ein vielversprechender Weg. Entscheidend ist der direkte Wertbeitrag für die Kunden. Für Vermittlungsdienste allein gibt es keine Zukunft. Diese als „Disintermediation“ bezeichnete Folge der fünften industriellen Revolution ist vielleicht die schlechteste Nachricht für alle, die als Makler oder Broker Produkte mehrerer Geldhäuser, Versicherungen und Investmentbanken weiterverkaufen. Ihre Jobs sind massiv gefährdet. Das Internet of Things (IoT) breitet sich zu einem Internet of Everything aus. Es verbindet den Business- und den Consumersektor in einer nie dagewesenen Dichte. Jeder Nachfrager ist sofort mit einem Anbieter verbunden. Einschlägige Plattformen im Internet gibt es bereits, Kredite von privat zu privat lassen sich problemlos abwickeln. Als zentrale Innovation avanciert die Blockchain zum „Protokoll des Vertrauens“, mit dem die direkten Geschäfte transparent und sicher realisiert werden können.

Diese Trends beeinflussen natürlich auch die Unternehmen und ihre Zusammenarbeit mit Kreditinstituten und Wirtschaftsprüfern. Die cleveren unter ihnen erhöhen bereits ihren Wertschöpfungsbeitrag für ihre Kunden. Sie optimieren und automatisieren mithilfe von Künstlicher Intelligenz die Finanzaudits. Laut World Economic Forum (WEF) wird 2025 ein Drittel von KIs erstellt werden. Darüber hinaus verbessern sie mittels „Predictive Analytics“ das Risikomanagement der Unternehmen, gehen per Datenanalyse gegen Missbrauch und Betrug vor und automatisieren das Vertragsmanagement. „Robotic Process Automation“ ist eines dieser Zauberwörter. Es ist für die Jobs genauso bedrohlich, wie es klingt. Computer beherrschen die Welt der Zahlen, Währungen und Aktien einfach besser als Menschen. Die Arbeit der Controller, Steuerfach gehilfen, Bank- und Versicherungskaufleute, Juristen und Steuerberater – selbst von qualifizierten Knowledge-Workern – wird wegrationalisiert. Mittlerweile schreibt Software 40 bis 50 Prozent aller Finanzberichte.

Was können Unternehmen nun tun? Die Zukunft aktiv mitgestalten, ja provozieren. Die Zeit dafür ist jetzt. Die Chance in einer Erde 5.0 ergibt sich für jeden, der bereit ist, seine Rolle und den Sinn seiner Arbeit zu hinterfragen: Wie lassen sich Alterssicherung und Vermögensaubau in einer Welt optimieren, aus der die Arbeit verschwindet? Welchen Beitrag können Finanzdienstleister bieten, wenn die Entwicklung des Sozialstaats, wie ich glaube, auf ein bedingungsloses Grundeinkommen hinausläuft? Wie können Peer-to-Peer-Geldgeschäfte zwischen Privatleuten oder Unternehmen organisiert werden? Wie lassen sich die gigantischen Infrastrukturprojekte für eine digitalisierte Welt finanzieren? Welches Risikomanagement ist geeignet, um Privatleute, Unternehmen und sogar Staaten finanziell gegen die Gefahren des Klimawandels abzusichern? Wie lassen sich Mikrokredite für Kleinstunternehmer besser gestalten und die Popularität des Crowdfundings erhöhen? Wer beginnt, darüber nachzudenken, ist auf dem sichersten und sinnvollen Weg in die digitale Zukunft. Wer jedoch nur den nächsten geschlossenen Immobilienfonds verkaufen will, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.

Autor: Karl-Heinz Land, Autor, Redner und Investor