Deutschland wieder der "kranke Mann Europas?"

25.10.2019

Nicola Mai, Portfoliomanager und Leiter European Sovereign Credit Research bei PIMCO / Foto: © PIMCO

Beim aktuellen Stand ist anzunehmen, dass sich Deutschland seit Mitte 2019 in einer technischen Rezession befindet – mit einem leichten BIP-Rückgang um annualisierte –0,3% im zweiten Quartal, auf den vermutlich ein noch stärkerer Rückgang im dritten Jahresviertel folgen dürfte.

Dabei wird es immer wahrscheinlicher, dass die Rezession von längerer Dauer sein wird, was dem drastischen Produktionseinbruch rund um die Welt und dem daraus resultierenden, massiven Rückgang der deutschen Industriedaten zuzuschreiben ist. In den kommenden Jahren dürfte die einheimische Wirtschaft an mehreren Fronten vor Herausforderungen stehen:

  1. Weltweite Handelskonflikte: Da die Exporte für etwa die Hälfte der Wirtschaftsaktivität verantwortlich sind, haben die globalen Handelsspannungen einen überproportionalen Effekt auf Deutschland. Zwar sollte eine gewisse Entspannung im US-chinesischen Handelsstreit die Aussichten verbessern, doch wir von PIMCO rechnen nicht damit, dass bald eine endgültige Lösung für den Konflikt gefunden wird. Das bedeutet, dass jegliche Verbesserung nur gradueller Natur sein dürfte.
  2. Ansteckungseffekte im Dienstleistungssektor: Während sich der deutsche Dienstleistungssektor besser gehalten hat als das verarbeitende Gewerbe, gibt es Anzeichen, dass sich die industrielle Schwäche zunehmend auf die übrigen Wirtschaftssegmente überträgt, wie allein der jüngste Rückgang des deutschen Einkaufsmanagerindex der Dienstleister um 3,4 Punkte auf 51,4 Punkte signalisiert. In diesem Zusammenhang könnte der Bankensektor abermals in Schwierigkeiten geraten, da die Rentabilität bereits gering ist und sich mehrere Institute gezwungen sehen, ihre Geschäftsmodelle umzugestalten.
  3. Strukturelle Probleme: Der traditionelle Pkw-Absatz könnte sich in Zukunft schwieriger gestalten, wenn klimabewusstere Generationen auf den Besitz eines Autos verzichten oder ein elektrisches Fahrzeug wählen – hier wird das Feld in Sachen Technologie derzeit von anderen Ländern angeführt. Da die westlichen Volkswirtschaften künftig auch weniger kapitalintensiv sind und stärker auf Technologien angewiesen sein werden, könnte die Nachfrage nach Industriemaschinen entsprechend geringer ausfallen. In den zurückliegenden Jahren gab es in Europa verhältnismäßig wenige Börsengänge.
  4. Kaum Unterstützung durch europäische Nachbarn: Die umgebenden Nationen sind wohl kaum in der Lage, das deutsche Wachstum maßgeblich anzukurbeln, da unter anderem Italien mit erheblichen strukturellen Wachstumshürden kämpft, Frankreich Verluste in seiner Wettbewerbsfähigkeit ausgleichen muss, die seit der Gründung der Eurozone zugenommen haben, und Spanien seine Stellung zwar verbessert, aber trotzdem nicht groß genug ist, um die gesamte Region zu beflügeln. In diesem Kontext gab der Gesamteinkaufsmanagerindex der Eurozone im September um 1,8 Punkte auf 50,1 Punkte nach – ein Niveau, das einem stagnierenden BIP entspricht.

Aussichten

Für das bevorstehende Jahr sieht unser Basisszenario für Deutschland eine allmähliche Verbesserung vor – dank einer potenziellen Entspannung im Handelsstreit im Jahr 2020 und einer Geldpolitik, die an Zugkraft gewinnt. Dennoch dürfte der Wiederaufschwung verhalten ausfallen.

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat zuletzt ein neues Lockerungsprogramm beschlossen; den Indikatoren zufolge könnten aufgrund der zunehmenden Abwärtsrisiken und der anhaltend rückläufigen Inflationserwartungen unter Umständen jedoch umfangreichere Maßnahmen vonnöten sein.

Da die Zinssätze ohnehin negativ sind und auch das Ankaufprogramm der EZB bereits über längere Zeiträume lief, scheint die Geldpolitik nahezu ausgereizt. Die angeschlagene deutschen Wirtschaft könnte dagegen von expansiverer Fiskalpolitik profitieren, zumal das Land mit einem Haushaltsüberschuss von rund 1,5% des BIP über den dafür erforderlichen Spielraum verfügt. Die jüngsten Äußerungen politischer Entscheidungsträger unseres Landes haben diese Hoffnung jedoch im Keim erstickt, was unsere Erwartung bestätigt, dass nicht mit einem baldigen Kurswechsel der einheimischen Fiskalpolitik zu rechnen ist.

Deutschland könnte zudem durch das Brexit-Ergebnis belastet werden, da das Vereinigte Königreich ein wichtiger Handelspartner ist. Auch die jüngsten Turbulenzen und die Währungsschwäche in der Türkei machten sich deutlich bemerkbar. Die Unsicherheit, die von beiden Situationen ausgeht, könnte längere Zeit anhalten.

Anlageimplikationen

Die erhebliche Schwäche der deutschen und der europäischen Wirtschaft – und auch der Weltwirtschaft im Allgemeinen – hat Euro-Staatsanleihen Auftrieb verliehen. In unseren Portfolios sind wir am kurzen Ende der Bundesanleihen-Zinskurve tendenziell untergewichtet, weil den Euro-Notenbankern nur wenig Raum für weitere Zinssenkungen bleibt. Demgegenüber sollte das längere Ende der Zinskurve weiterhin Unterstützung erfahren, da sich die expansive Geldpolitik als unzureichend und weitgehend wirkungslos erweisen dürfte, wenn es darum geht, die gedämpften Inflationserwartungen zu beleben. Wie Abbildung 2 veranschaulicht, liegt der Terminsatz fünfjähriger Euro-Inflationsswaps in fünf Jahren bei rund 1,2% und damit nahe seinem Allzeittief.

Was die Peripherieländer betrifft, deuten die Bemühungen der EZB und die zuletzt positiven Entwicklungen in der italienischen Politik und der Politik im gesamten Euroraum aus Sicht der Märkte darauf hin, dass italienische Staatsanleihen in naher Zukunft Unterstützung erfahren dürften. Dennoch mahnen die mittelfristigen Risiken zur Vorsicht und warnen davor, an dieser Stelle umfangreiche Risikopositionen aufzubauen.

Abbildung 2

Marktkommentar von Nicola Mai, Portfoliomanager und Leiter European Sovereign Credit Research bei PIMCO