Das Beste liegt hinter uns
19.08.2015
Das Bild einer zwischen traditionellen Industrieländern und nachrückenden Volkswirtschaften recht ausgewogenen weltwirtschaftlichen Entwicklung, das bis vor der Schuldenkrise gegolten hatte, trifft heute nicht mehr zu.
Die Entwicklungsländer sind in den letzten Jahren mehr und mehr als globaler Wachstumsmotor ausgefallen. Dies liegt hauptsächlich darin begründet, dass Schwellenländer wie China sich weiterentwickeln wollen vom Investitionsstandort hin zum Innovationsstandort. Diese Länder möchten also nicht nur billig produzieren, sondern die Produkte auch entwickeln und damit in der Wertschöpfungskette der Weltwirtschaft weiter nach oben rücken – eine Strategie, die vor dem Hintergrund der demographischen Herausforderungen in den asiatischen Ländern auch geboten ist. In Südamerika, wo das Wachstum hauptsächlich von Brasilien getragen wurde, hat zwischenzeitlich eine fehlgeleitete Wirtschaft- und Strukturpolitik das Wachstumstempo merklich gedrosselt.
Somit bleiben als Motoren der Weltwirtschaft noch die Industrieländer. Insbesondere die USA, Großbritannien und Deutschland haben diese Rolle übernommen. Sie kämpfen jedoch mit einer – als Lehre aus der Finanzkrise politisch und gesellschaftlich gewünschten – zunehmenden Regulierung des Finanzsektors und einer spürbaren Investitionszurückhaltung. Letztere geht wohl auf die weltweit immer noch hohen Kapazitäten zurück, die in den Jahren vor der Krise 2008/2009 aufgebaut wurden und die immer noch nicht voll ausgelastet sind. Die Produktionskapazitäten waren früher auf ein Weltwachstum von rund 4 % pro Jahr ausgelegt. Seit 2009 liegt das durchschnittliche Wachstum jedoch nur noch bei rund 3 %. Ein anderer wichtigere Faktor ist die zunehmende Zahl weltpolitischer Krisenherde. So ist es nicht verwunderlich, dass sich die Unternehmen mit Investitionen zurückhalten. Die fehlende globale Investitionsbelebung ist somit ein Merkmal des aktuellen Wachstumszyklus.
Die binnenwirtschaftliche Entwicklung in einzelnen G7-Ländern ist dabei durchaus positiver, als die bescheidenen globalen Wachstumsraten vermuten lassen. Dass die Wirtschaftsleistung der größten Industrieländer deutlich langsamer steigt als vor 2008, reflektiert in erster Linie den schwachen Außenhandel und nicht mangelnde Binnennachfrage. Die Entwicklung der Arbeitsmärkte – jedenfalls in Deutschland und in den USA – ist sehr erfreulich. Dass die Arbeitsmarktdaten für die Eurozone im Ganzen alles andere als befriedigend sind, liegt an den Folgen der europäischen Schuldenkrise. In Deutschland wie auch in den USA ist aber die Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren merklich gesunken, die Beschäftigung ist angestiegen. Deutschland ist in einigen Sektoren zwischenzeitlich sogar nahe an der Vollbeschäftigung. Die gute Beschäftigungssituation stärkt das Verbrauchervertrauen und macht sich zunehmend in einer Belebung des privaten Konsums bemerkbar. Die Zuversicht der privaten Haushalte, in Verbindung mit den sehr niedrigen Hypothekenzinsen, hat auch die Immobilienmärkte profitieren lassen. Insgesamt wird das Wachstum also hauptsächlich vom privaten Konsum getragen. Die Investitionstätigkeit ist dagegen verhalten, und der Export bringt wenig Impulse.
So weit, so gut. Insgesamt kann man mit der Entwicklung in den G7-Ländern recht zufrieden sein. Betrachtet man jedoch das monetäre Umfeld in den letzten Jahren, dann muss man sich fragen, wieso die extrem expansive Geldpolitik nicht mehr als das bescheidene weltwirtschaftliche Wachstum von rund 3 Prozent hervorgebracht hat.
Leitzinsen von nahe Null und massive quantitative Lockerungsmaßnahmen der Notenbanken haben natürlich (zumindest eine Zeitlang) eine positive Wirkung auf das Wirtschaftswachstum. Insbesondere beflügeln sie die Anschaffungsneigung der privaten Haushalte und die Investitionsneigung der Unternehmen. Zudem verschaffen sie den Staatshaushalten durch niedrige Zinskosten Spielraum für Mehrausgaben. Dass bei diesen massiven stimulierenden Effekten nicht mehr an Wachstum herausgekommen ist, lässt doch an der Wachstumsstärke der Industrieländer zweifeln. Wie würde das Wachstum ohne die – nicht auf Dauer durchhaltbare – expansive Wirtschaftspolitik aussehen?
Dass die wirtschaftspolitischen Stimuli in den kommenden Jahren nachlassen, ist mehr als wahrscheinlich. Es ist kaum vorstellbar, dass die Notenbanken die Leitzinsen immer weiter senken und die Leitzinsen für lange Zeit weit im negativen Bereich liegen. Und auch wenn die Zinsen längere Zeit unverändert auf den jetzigen Niveaus blieben, würde sich der stimulierende Effekt mit der Zeit abnutzen. Von Seiten der Fiskalpolitik dürften zwar in den nächsten Jahren noch leicht positive Wachstumsimpulse kommen, da vielerorts die Bemühungen zum Abbau der strukturellen Defizite verlangsamt oder ganz eingestellt werden. Vermutlich werden aber die negativen monetären Impulse stärker wirken als die positiven fiskalischen. Und ohne diese Impulse dürfte das Wirtschaftswachstum noch bescheidener ausfallen als in den letzten Jahren.
Skepsis hinsichtlich der Wachstumsaussichten für die beiden wichtigsten Wachstumstreiber der Weltwirtschaft – die USA und Deutschland – ergibt sich auch aus einer Analyse der Konjunkturzyklen. Denn der Wachstumszyklus in den Industrieländern hält schon sehr lange an. Der aktuelle Aufschwung hat mit einer Dauer von rund 70 Monaten nach früher geltenden Maßstäben sein Haltbarkeitsdatum wohl allmählich erreicht.
Richtig ist, dass der aktuelle Zyklus untypisch ist. Der Lehmann-Schock, der alle Industrieländer in eine mehr oder weniger starke Rezession gestürzt hatte, hat zu einem ungewöhnlich synchronen Wachstumszyklus geführt. Auch das Verhalten von Geld- und Fiskalpolitik im Gefolge der Krise war in allen Industrieländern ähnlich – sehr schnell umfangreiche schuldenfinanzierte Konjunkturstützungsprogramme, die danach allmählich wieder zurückgenommen wurden, und auf geldpolitischer Seite schnelle Zinssenkungen und dann mehr und mehr quantitative Lockerung, die bis heute unverändert durchgehalten wird. Es kann keinen Zweifel geben, dass diese Wirtschaftspolitik eindeutig positiv auf das Wachstum und damit verlängernd auf den Wachstumszyklus gewirkt hat.
Die Reife des Wachstumszykluses und der bevorstehende Entzug von monetären Wachstumsimpulsen müssen nicht bedeuten, dass die Industrieländer und damit auch Deutschland unmittelbar vor einer Rezession stehen. Jedoch spricht viel dafür, dass wir schon mehr als die Hälfte des aktuellen Aufschwungs hinter uns haben. Sicherlich haben wir noch einen Joker in der Hinterhand, um einen plötzlichen Abschwung zu vermeiden, nämlich höhere Staatsausgaben. Jedoch wird man diesen nur sehr selektiv nutzen können, da viele Staaten immer noch viel zu hoch verschuldet sind. Raum für eine kräftige staatliche Konjunkturspritze gibt es eigentlich nur in den USA und Deutschland.
Somit ist es also durchaus wahrscheinlich, dass innerhalb der kommenden Jahre die Konjunkturdynamik nachlässt und die Industrieländer in die Abschwungphase des aktuellen Zyklus eintreten. Dies muss nicht zwingend in einer Rezession enden. Wenn man sich den Verlauf des aktuellen Aufschwungs betrachtet, kann es auch eine langgestreckte Periode mit sehr schwachem Wachstum und wieder steigender Arbeitslosigkeit sein. Auslöser des konjunkturellen Wendepunkts dürften – wie so oft – die Notenbanken sein. Anders als früher ist aber dafür gar kein Tritt auf die geldpolitische Bremse nötig, sondern schon etwas „Gas weg nehmen“ dürfte eine starke Wirkung haben, nachdem sich die Volkswirtschaften in der langen Phase extrem expansiver Notenbankpolitik an den Stimulus gewöhnt haben.
Welche Konsequenzen hat dieses Konjunkturbild für die Anlagemärkte? An den weltweiten Aktienmärkten könnte man noch für einige Zeit steigende Kurse erwarten, aber der größte Teil der Aufwärtsbewegung dürfte hier schon hinter uns liegen. Andererseits würden Zinsen und Renditen in einem solchen Szenario in den nächsten Jahren nicht kräftig steigen, und man hätte noch einige Jahre ein Umfeld mit niedrigen Zinsen zu erwarten. Dies würde die Banken und Sparer weiterhin belasten. Gleichzeitig dürfte im Bankensektor die Risikovorsorge wieder ansteigen, da die Ausfälle im Kreditgeschäft wieder zunehmen sollten. Insgesamt bliebe damit der Bankensektor in einer sehr schwierigen Situation.
Fazit: In den kommenden Jahren dürfe es zu einer konjunkturellen Abkühlung in den Industrieländern kommen. Die Aktienmärkte sollten hiervon in Mitleidenschaft gezogen werden und das Zinsniveau sollte noch länger sehr niedrig bleiben. Dies ist sicherlich kein sehr günstiger Ausblick, jedoch könnte sich der weltwirtschaftliche Konjunkturzyklus nach dieser Abschwungphase wieder normalisieren, so dass die Weltwirtschaft dann endlich wieder in bekanntes Gewässer kommt, mit einer normalen zyklischen Bewegung.
Autor: Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt der DZ BANK