Angriff auf den Kern?

21.10.2019

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Unisex, Uni-alles?

Es stellt sich bloß die Frage: Warum sollte einzig das Geschlecht als Risikofaktor ausgeschlossen werden? „Wenn der Gesetzgeber konsequent ist, gibt es tatsächlich keinen Grund für Frauen bzw. Männer eine Gleichstellung zu verlangen, den Ausschluss oder die höhere Bepreisung von Behinderten oder Kranken zuzulassen“, findet Pradetto. Davon abgesehen ist sich der Geschäftsführer des Lübecker Maklerpools nicht sicher, ob diese Diskussion über Gerechtigkeitsaspekte überhaupt zielführend ist. „Denn am Ende bedeutet weniger Risikoselektion höhere Prämien. Das zieht wiederum nach sich, dass sich vor allem sozial Schwächere seltener versichern und damit im Schadensfall direkt in die Arme der gesetzlichen Sozialversicherung fallen.“

Auch Dickner befürchtet durch weitere Vereinheitlichung höhere Kosten für den Kunden: „Nehmen wir mal das Kriterium Alter – wie soll dies vereinheitlicht werden, so dass nicht am Ende alle zusammen eine viel zu hohe Prämie bezahlen, da der Versicherer ja nicht weiß, wer letztendlich in einem Tarif das Kollektiv bildet?“ In klar abgegrenzten Teilkollektiven, z. B. in der betrieblichen Altersversorgung, kann er sich hingegen eine Ausweitung der Uni-Tarife auch auf andere Risikofaktoren als nur das Geschlecht vorstellen. „Es wird ja auch heute schon in Einzelfällen praktiziert, z. B. mit Einheitsberufsklassen, Durchschnittswerten bei Alter oder Laufzeit, der kollektiven Hinterbliebenenversorgung etc.“, so Dickner.

Blick in die Glaskugel

Mit Blick auf die Zukunft des Spannungsfeldes „Solidarität vs. individuelles Risiko“ ist sich Frau Mondry sicher: „Der Risikoausgleich im Kollektiv wird ein wesentliches Element jeder Versicherung bleiben.“ Allerdings merkt sie an, dass Spannungsfelder immer wieder neu austariert werden müssen. Nach Dickners Einschätzung wird dies in einzelnen Bereichen zugunsten der Individualisierung geschehen – allerdings werde diese Entwicklung langsamer als bisher ablaufen. „Langsamer deswegen, weil es zwar schier unendliche Datensammlungen gibt, aber ihre Geeignetheit zur verlässlichen Prämiendifferenzierung meines Erachtens stark begrenzt ist.“ Eine fortschreitende Verschiebung hin zur Differenzierung durch Digitalisierung erwartet auch Frank Rottenbacher, Mitglied des Vorstandes des AfW Bundesverbandes Finanzdienstleistung e.V. „Bei diesen Tarifen kann dann ein Wachstum über das Aufschließen neuer Kundensegmente, die von günstigeren Tarifen profitieren würden, generiert werden.“ Für den Kunden bedeutet das: „Die Individualität mit ihren potenziell günstigeren Tarifen muss dann im Zweifel über die Zurverfügungstellung eigener Daten bezahlt werden.“

In 100 Jahren ohne Versicherung?

Pradetto bereitet diese Verschiebung große Sorgen. „Wenn man das zu Ende denkt, zahlt am Ende jeder genau die Kosten, die er verursachen wird“, gibt er zu Bedenken. „Dann braucht es aber keinen Versicherer mehr, weil eine Versicherung dann nichts anderes mehr ist als ein Ansparvertrag für eintretende Schäden.“ Der blau direkt-Chef, der für seine anregenden Thesen bekannt ist, bietet bei diesem Thema eine Steilvorlage zur weiteren Debatte. Für ihn hat die Digitalisierung, die auch der Motor der Individualisierung ist, nämlich noch einen ganz anderen Effekt: „Wenn immer mehr Berufe durch Maschinen, Computer und künstliche Intelligenz ersetzt werden, aber die gleiche Wertschöpfung produziert wird, braucht es eine Umverteilung der Erträge, die sich nicht mehr nach der Arbeitskraft bemessen darf.“ Seine Schlussfolgerung: „Wir laufen also zwingend auf eine Art Grundeinkommen zu. Damit verschwinden dann aber auch individuelle Risiken.“ Daraus ergibt sich für Pradetto eine Gesellschaft mit einem höheren Grad an Solidarität und vor allem – ohne Versicherung. Zumindest in 100 Jahren. Das sei aber auch nicht weiter schlimm, da es vor 500 Jahren diese Branche auch nicht gegeben habe. (sh)