Was ist dran an „Sell in May and go away?“

20.05.2021

Brian O'Reilly, Head of Market Strategy bei Mediolanum International Funds Ltd. - Foto: © Mediolanum International Funds Ltd.

Seit Jahrzehnten halten Anleger am alten Börsenmärchen “Sell in May and go away, and come on back on St. Leger’s Day” fest. Folgt man dem Spruch, liegen im Zeitraum zwischen September und Mai die renditestarken Monate – danach ist Sommerpause. finanzwelt bat Brian O'Reilly, Head of Market Strategy bei Mediolanum International Funds Ltd., um eine Einschätzung der Dinge.

Markt-Timing-Strategien wie die „Nikolaus-Rallye“, der „Januar-Effekt“ oder „Sell in May and go away, and come back on Leger’s Day” gehören bis heute zur Investment-Folklore. Der Börsenspruch „Sell in May and go away“ geht sogar bis ins alte London zurück. Damals bewährte sich die Strategie auf dem berühmten Pferderennen St. Leger Stakes, bei dem die Londoner seit 1776 jedes Jahr im September auf dreijährige Stuten und Hengste wetteten. Die Regel ist bis heute beliebt, wohl auch, weil es sich oft ergeben hat, dass die Börsenkurse bis zum Herbst gefallen sind. Aber sollten Anleger tatsächlich einer Investmentphilosophie trauen, die in einen Reim gefasst werden kann?

Die Sommerpause in alten Zeiten

Für eine Branche, die sich selbst dafür lobt, in allen Belangen auf dem neuesten Stand zu sein, ist es erstaunlich, dass sie derart empfänglich für Volksmärchen ist, um die Unwägbarkeiten des Marktes zu erklären. Aus Sicht der Behavioral Finance könnte an „Sell in May“ etwas dran sein, da der Mai oft den Start der Sommerferien markiert. In vielen Ländern verlassen Menschen dann die Städte, um in den Urlaub zu fahren oder Zeit mit der Familie zu verbringen. Früher bedeutete das: Die Händler schließen ihre Bücher, das Handelsvolumen an den Börsen fährt auf ein Minimum herunter und die Kurse dümpeln richtungslos vor sich hin.

Keine Pause in der Zoom-Generation

Mittlerweile sehen die Welt und die Urlaubsgewohnheiten jedoch anders aus. Bloomberg und CNBC können weltweit auf jedem Fernseher empfangen werden können und die Financial Times wird im Zug eher auf dem iPad als in der gedruckten Version gelesen.

Als die globale Finanzkrise 2008 ausbrach, tauchte erstmals der Begriff „Blackberry Warrior“ (übersetzt Blackberry Kämpfer) auf und bezeichnete jene Händler an den Stränden der Hamptons und Jersey, die auf ihren kleinen Geräten ihre Aktienpositionen im Blick behielten. Und als die Pandemie letztes Jahr ihren Lauf nahm, waren die Leute mithilfe von Zoom und Bloomberg schnell in der Lage, ihre Arbeit ins Homeoffice zu verlagern und überall in der Welt von zuhause aus mit Wertpapieren zu handeln.

Lügen und Statistiken

Folgt man „Sell in May and go away”, fahren Investoren besser damit, wenn sie im Oktober in den Markt einsteigen und im Mai des Folgejahres wieder verkaufen.

Was sagt jedoch die Statistik? Der Blick auf die Zahlen zeigt, dass der S&P 500 seit 1950 zwischen Oktober und Ende April mit einer durchschnittlichen Rendite von 9 Prozent gut performte, während er von Oktober bis Mai tatsächlich nur 1 Prozent erzielte. Demnach stimmt die Börsenweisheit. Gleichzeitig haben Anleger, die in den letzten 70 Jahren von Mai bis Ende September investiert waren, aber auch kein Geld verloren.

Die Grafik zeigt die durchschnittlichen Renditen pro Monat seit 1950. Deutlich wird, dass die Renditen abseits der Sommermonate tendenziell höher ausfallen, was die Theorie bestätigt. Auch die Börsenweisheiten zum „Januar-Effekt“ und der „Nikolaus-Rallye“ werden untermauert.

Die Statistik zeigt allerdings auch, dass der Juli ein ertragsreicher Monat ist, was wiederum die „Sell in May“-Theorie widerlegt. Gerade das Jahr 2020 hat eindrucksvoll gezeigt, wie wichtig es war, in den Monaten Juni bis August im Markt zu sein. Wenn Anleger in den Sommermonaten nicht investiert sind, könnten sie dadurch auf lange Sicht viel Geld verlieren.

Sollte man diesen Mai verkaufen?

„Sell in May“ ist dieses Jahr besonders aktuell. Seit der Einführung der Impfstoffe im letzten November haben die Märkte einen phänomenalen Lauf hingelegt. Derzeit deuten alle fundamentalen und technischen Indikatoren darauf hin, dass eine Korrektur überfällig ist. Den Zeitpunkt für einen solchen Rücksetzer kann niemand genau vorhersagen, aber er rückt sicher näher, wenn die Notenbanken einmal mehr deutlich machen, dass sie darüber nachdenken, die Geldschleusen zu schließen.

Die Frage ist deshalb: Wie stark könnte die Korrektur ausfallen? Und rechtfertigt ein Rückschlag es, Positionen komplett zu schließen und nach dem Ereignis wieder einzusteigen? Darüber hinaus ist es heute sehr viel schwerer den Markt zu timen, da wir in einer Anlagewelt leben, die durch eine enorme Liquidität befeuert wird. Zu guter Letzt hängt die Frage des Timings deshalb davon ab, ob sich Anleger als Investor oder Trader sehen. Nebenbei erwähnt: Es ist stark zu bezweifeln, dass „Reddit-Investoren“ von „Sell in May“ gehört haben oder sich dafür interessieren.

Den Kurs halten, lautet die Devise

Gegenwärtig schwimmen die Bären gegen eine sehr starke Geldflut und eine starke wirtschaftliche Erholung an, die durch satte Unternehmensgewinne gefestigt wird - all das trägt dazu bei, die zugegebenermaßen hohen Bewertungen zu rechtfertigen. Das Impfgeschehen weltweit und die steigende Impfquote in Europa lassen die Zukunft sehr viel rosiger als noch vor kurzem aussehen.

Schlussendlich lässt sich sagen, dass die "Sell in May"-Strategie in der Vergangenheit nicht zu höheren Renditen für Investoren geführt hat. Auch der Versuch, den durch enorme Liquidität gefluteten Mark zu timen, ist eher zum Scheitern verurteilt. Die Devise sollte also lauten, an den Märkten den Kurs zu halten, bis die Zentralbanken die Party beenden. (ah)