„Vom Vertriebswege-Mix zur Vertrauensorganisation“

28.06.2024

Frank Kettnaker, Vorstand für Vertrieb und Marketing im fw-Interview - Foto: © ALH Gruppe

Als bisher einziger Versicherungskonzern hat sich die ALH Gruppe vor anderthalb Jahren zu einem mutigen Schritt entschieden: Die Transformation der konzerneigenen Ausschließlichkeitsorganisation hin zu Mehrfachagenten. Mittlerweile planen auch andere Gesellschaften, diesen Weg einzuschlagen. Im Interview erklärt Frank Kettnaker, Vorstand für Vertrieb und Marketing der ALH Gruppe, die Strategie dahinter, welche Win-Win-Situation sich daraus für Agenturen und Versicherung ergibt und zieht ein Zwischenfazit. Außerdem spricht er über die Erfolgsfaktoren hinter den Rekordzahlen bei der Hallesche Krankenversicherung sowie der Sachversicherungssparte.

finanzwelt: Herr Kettnaker, warum haben Sie sich 2022 für den Wandel von der Ausschließlichkeitsorganisation (AO) hin zu Mehrfachagenten (MFA) entschieden?
Frank Kettnaker: Dieser Schritt war bis dato absolut einzigartig. Noch nie zuvor hat ein Versicherer seine Ausschließlichkeitsagenten inklusive Bestand freigegeben. Der Ausgangspunkt war, dass wir in der AO sinkende Bestände und ein rückläufiges Neugeschäft festgestellt haben, obwohl die ALH Gruppe insgesamt gewachsen ist. Da muss man sich fragen: Wo liegt das Problem? Warum wächst das Geschäft bei freien Maklern, aber nicht in der AO? Nach einer umfassenden Analyse hat sich sehr schnell herausgestellt, dass wir als Unternehmen zwar die richtigen betriebswirtschaftlichen Entscheidungen treffen, dies die AO in manchen Bereichen aber vor echte Herausforderungen stellt. Der AO-Agent kann seinen Kunden per Definition ausschließlich Produkte der ALH Gruppe anbieten. Wenn wir also einzelne Produkte wie die Wohngebäudeversicherung anpassen, sanieren und die Prämien erhöhen, dann sieht sich der Kunde möglicherweise nach einem anderen Versicherungsschutz um. Wo tut er das? Beim Makler! Der sagt: ‚Ich kann dir hier ein anderes Produkt anbieten, aber du unterschreibst mir bitte ein Maklermandat für alle Verträge.‘ Damit verliert der AO-Agent nicht nur den Wohngebäudevertrag, sondern die gesamte Kundenverbindung an den Makler. Dagegen konnte sich unsere AO nicht wehren. Nach einer Analyse haben wir uns als beste Lösung für den Wandel der AO-Agenten zu freien Mehrfachagenten entschieden.

finanzwelt: Welche Schritte wurden bisher umgesetzt und wie wurde die Transformation von den Agenturen angenommen?
Kettnaker: Natürlich bestand grundsätzlich das Risiko, dass die Agenturen unsere gesamten Bestände umdecken. Deswegen habe ich dieser Transformation den Titel ‚Vom Vertriebswege-Mix zu einer Vertrauensorganisation‘ gegeben. Denn viele unserer bisherigen Generalagenten sind bereits in dritter Generation bei uns. Die große Frage war: Werden wir deren Loyalität morgen verlieren? Das konnten wir mit Nein beantworten. Gleichzeitig mussten wir unsere Generalagenten umschulen und dazu befähigen, als freie Mehrfachagenten ein breites Spektrum an Leistungen anzubieten. Das haben wir durch eine Kooperation mit dem Maklerbund VFM getan. Seitdem können sie bestimmte Produkte auch bei anderen Anbietern eindecken, ohne den Kunden zu verlieren. Und wir verlieren nicht den gesamten Bestand. Wenn die Vertrauensorganisation stimmt, dann ist es ein Win-Win-Prinzip. Und so hat es sich auch bis heute erwiesen.

finanzwelt: Wie ist der aktuelle Stand? Welches Fazit ziehen Sie heute?
Kettnaker: Das Projekt ist vor eineinhalb Jahren gestartet. Wir haben zurzeit 60 % der Agenturen transformiert. Das liegt aber nicht daran, dass die anderen 40 % nicht wollen, sondern dass die Bestände sukzessive in das neue Verwaltungssystem von VFM überführt und die Mitarbeiter geschult werden müssen. Ende des Jahres werden wir 90 % in das neue Modell überführt haben. Die restlichen 10 % bleiben im alten Modell. Dabei geht es um Agenten im Alter zwischen 60 und 65 Jahren, von denen die meisten kurz vor dem Renteneintritt stehen. Für sie wäre die Transformation ein zu großer Aufwand am Ende ihres Berufslebens, und das akzeptieren wir. 90 % reichen im ersten Schritt vollkommen aus. Wir reden hier von 190 Agenturen mit ungefähr 500 Mitarbeitern, die bis Jahresende Mehrfachagenten und keine Ausschließlichkeitsagenten mehr sind und ihren Kunden ein breites Produktportfolio anbieten können. Heute können wir ein sehr positives Fazit ziehen. Zweifelsohne braucht es als ‚First Mover‘ für eine so grundlegende Entscheidung Zeit, Mut, Gespräche und ein klares Konzept. Unser Beispiel scheint Schule zu machen, denn das Interesse der Mitbewerber an unserem Weg ist sehr groß.

finanzwelt: Im Geschäftsjahr 2023 konnte die Alte Leipziger Lebensversicherung ihr Neugeschäft gegen laufenden Beitrag mit rund 220 Mio. Euro im Vergleich zum Vorjahr um ca. 3,2 % steigern. Insgesamt lag das Neugeschäftsergebnis jedoch rund 14 % unter dem von 2022. Wie bewerten Sie das?

Kettnaker: Insgesamt sind wir mit dem Ergebnis sehr zufrieden, denn wir müssen es differenziert betrachten. Ein Rückgang von 14 % im Neugeschäftsergebnis ist natürlich nicht erfreulich, aber die Ursache dafür lag im schnellen und starken Zinsanstieg, der unser Einmalbeitragsangebot im Vergleich zu Bankprodukten vorübergehend weniger attraktiv für die Kunden machte. Darüber hinaus haben wir auch mit dem Rückgang bei Einmalbeiträgen insgesamt Marktanteile gewonnen, weil sich das Geschäft in der Branche schwächer entwickelt hat als bei uns. Entscheidender ist für uns der laufende Beitrag, und hier sind wir im Bestand mit einem Plus von 3,1 % wieder deutlich stärker als der Markt gewachsen. Der Branchendurchschnitt lag laut GDV bei 0,4 %. Die laufenden Beiträge sind ein wesentlicher Erfolgsfaktor, da diese immer wiederkehren und auch unsere Zukunft stärken. Die Treiber für das Wachstum waren wieder unsere betriebliche Altersversorgung, die Berufsunfähigkeitsversicherung und Fondsrenten. Wir betreiben unser bAV-Geschäft bereits seit 50 Jahren und haben einen großen Bestand aufgebaut. Das ist ein gutes Polster für die Zukunft.

finanzwelt: Dagegen hat die Hallesche Krankenversicherung mit rund 7,2 Mio. Euro Monatssollbeitrag 2023 ihr bisher stärkstes Neugeschäftsergebnis erzielt, 49 % mehr als 2022. Was waren die wesentlichen Treiber dafür?
Kettnaker: Da kann ich drei wichtige Punkte nennen. Der stärkste Treiber liegt in unserem Vollversicherungs-Tarifkonzept NK.Select, das wir Ende 2022 vervollständigt haben und das auf eine große Nachfrage stieß – mit einem Neugeschäftsplus von 54 % gegenüber dem Vorjahr. Man könnte fast sagen, der Markt hat auf so ein Produkt gewartet. Es ist leistungsstark, ordentlich eingepreist und gut im Wettbewerb positioniert. Das besondere Merkmal von NK.Select ist die hohe Flexibilität. Der Kunden kann je nach Lebenssituation sehr unkompliziert innerhalb der Tarife wechseln. Darüber hinaus ist die Hallesche seit Jahren als zukunftsorientierter Krankenversicherer mit relativ stabilen Beiträgen bekannt. Bei uns gibt es weder überbordende Preissteigerungen noch -senkungen, denn wir setzen unseren gut gefüllten RfB-Topf auch zur Limitierung der Beiträge für die Kunden ein. Das können nur sehr kapitalstarke Gesellschaften sicherstellen. Im Gegensatz zu manchen Wettbewerbern limitieren wir die Beiträge der Kunden nicht nur für ein Jahr, sondern bis zum Ende der Vertragslaufzeit nach Sterbetafel durch. Ein Beispiel: Bei der Hallesche liegt der Monatsbeitrag bei 68 % der über 65-Jährigen im Durchschnitt bei unter 600 Euro. Der Höchstbeitrag der GKV liegt 2024 ohne Pflege bei 846 Euro. Hier sieht man schon einen deutlichen Unterschied und das bei deutlich besseren Leistungen der Hallesche. Der zweite Wachstums-Treiber war unsere betriebliche Krankenversicherung mit einem Plus von knapp 35 % gegenüber dem Vorjahr. Hier erzielen wir ein Rekordergebnis nach dem anderen. Wir waren der Erfinder der Budget-Tarife in der bKV und wurden mittlerweile vielfach im Markt kopiert.

finanzwelt: Welcher weitere Faktor hat für die Rekordzahlen der Halleschen Krankenversicherung eine entscheidende Rolle gespielt?
Kettnaker: Der dritte Grund für unser starkes Wachstum liegt in einem veränderten Verhalten in der Bevölkerung. Anders als üblich gab es 2023 keinen großen Wechsel innerhalb der PKV von einem Anbieter zum anderen, sondern einen ungewöhnlich starken Wechsel der Versicherten von der GKV in die PKV. Doch warum erst jetzt und nicht zuvor während der Pandemie? Eine Kundenbefragung hat uns gezeigt: Die Gründe dafür lagen in einer hohen Grippewelle im Herbst 2023 und daraus resultierend völlig überlasteten Arztpraxen. Infolgedessen gab es für GKV-Versicherte kaum noch die Möglichkeit, einen Arzttermin zu bekommen. Beim Wechsel von der GKV in die PKV stand also nicht mehr das Argument einer besseren medizinischen Versorgung im Vordergrund, sondern überhaupt der Zugang zu medizinischer Versorgung.

finanzwelt: Auch die Alte Leipziger Sachversicherung konnte 2023 ihr bislang höchstes Neugeschäft erzielen. Woraus resultiert das vor allem?
Kettnaker: Wir haben in der Privatschutz-Sparte in allen Bereichen – Hausrat, Haftpflicht, Gebäude und Unfall – neue, zeitgemäße Produkte auf den Markt gebracht und konnten damit die Beitragseinnahmen um 31 % steigern. Der Kompositmarkt ist ein Verdrängungsmarkt. Hier gibt es oftmals Einjahresverträge und die Kunden haben somit häufiger die Möglichkeit zum Wechsel. Die Erneuerung unserer Produkte hat zahlreiche Versicherungskunden zu uns geführt. Zugelegt haben wir aber auch in der Gewerbeversicherung, um knapp 17 % gegenüber dem Vorjahr. Hier haben wir eine neue Nische im Maklermarkt identifiziert, die zwischen den Konzernen und dem klassischen Kleingewerbe liegt. Also haben wir uns genau auf dieses Segment spezialisiert, das für kleine Sachversicherer zu groß und für Industrieversicherer zu klein ist. Das kam bei den Maklern sehr gut an.

finanzwelt: Welche besondere Strategie steht hinter den neuen Produkten der ALH Gruppe?
Kettnaker: In den letzten fünf Jahren haben wir verstärkt auf Design Thinking Ansätze und Kundenbefragungen gesetzt, das war ein echter Wendepunkt. Statt von dem auszugehen, was wir können, stellen wir uns vermehrt die Frage: Was sind eigentlich die Probleme draußen im Markt? Und wie schaffe ich die Befähigung im Haus, diesen Bedarf zu decken? Dabei ist folgender Ansatz wichtig: Lasst uns nicht überlegen, warum es nicht geht, sondern lasst uns doch überlegen, wie es gehen könnte. Gleichzeitig muss man sich aber auch ehrlich eingestehen, wenn man etwas nicht kann, und das den Spezialisten überlassen. Diese Strategie ist Teil der Erfolgsgeschichte unseres Unternehmens und wir wollen sie auch künftig fortführen.

finanzwelt: Wie ist Ihr weiterer Ausblick für das Versicherungsjahr 2024?
Kettnaker: Unser Ausblick für die Versicherungsbranche ist weiterhin positiv. Wir leben zwar in geopolitisch, wirtschaftlich und innerpolitisch schwierigen Zeiten. Doch was wollen die Menschen, wenn sie unsicher sind? Sicherheit! Deswegen merken wir, dass die Menschen heute zugänglicher für Beratungsgespräche zur Alterssicherung und vielem mehr sind. Gerade auch junge Menschen, die ein ganz anderes Nachhaltigkeitsbewusstsein haben als früher und rechtzeitig an morgen denken. Deswegen bin ich zuversichtlich, was unsere Branche angeht. Um zukunftsfähig zu bleiben, müssen wir weiterhin an der Digitalisierung und innovativen Produkten arbeiten. Man braucht die Kombination von individueller Beratung und standardisierten Prozessen im Hintergrund. Wir sind und bleiben ein Maklerversicherer. Gleichzeitig haben wir uns gelöst von dem Gedanken der Vertriebswege. Jeder Kunde ist bei uns herzlich willkommen, egal ob er über eine Bank, einen Mehrfachagenten, einen Makler kommt, oder ob er direkt bei uns abschließt. Wir stellen die gesamte digitale Strecke auf allen Vertriebswegen, auch dem Kunden direkt zur Verfügung. Dabei verfolgen wir eine ‚One-Price-Strategie‘: Der Kunde, der bei uns direkt abschließt, bekommt den gleichen Preis wie beim Makler. Das ist fair für alle Beteiligten. (mho)