Schuß vor den Bug

07.11.2022

Rolf Ehlhardt, Vermögensverwalter, I.C.M. Independent Capital Management Vermögensberatung Mannheim GmbH

Ein erstes Beben an den Märkten in England. Das Eingreifen der BoE verhinderte schlimmeres weltweit. Die Ankündigung des Finanzministers, massiv Entlastungen über noch höhere Schulden zu finanzieren, löste eine Verkaufswelle bei britischen Staatsanleihen und dem Pfund aus. Die Rendite der 30-jährigen Gilts explodierte in nur drei Tagen von 3,5 % auf 5,14 %. Der Derivate-Markt stand kurz vor dem Kollaps. Die englischen Pensionsfonds erlitten schwerste Verluste. Julius Bär Chef-Analyst Gattiker resümierte treffend: Auf der Ausgabenseite Gas geben, wenn die Notenbanken auf die Bremse treten, ist grobfährlässig.

Die Reaktion der Börse auf „unpassende“ Entscheidungen dürfte auch für andere Notenbanken (siehe Canada und Australien) als Mahnung dienen. Die jetzt gemachte Erfahrung von kollabierenden Zinsen wird bei jeder Zinsentscheidung eine wichtige Rolle einnehmen. Kein Entscheider will sich den Vorwurf einhandeln: Habt ihr aus dem Geschehen in England nichts gelernt? Sowohl die hohe Verschuldung als auch die Abhängigkeit der Wirtschaft von künstlich niederen Zinsen, erlauben keine Inflationsadäquate Zinspolitik. Weiter steigende Zinsen wären in USA und in Europa Gift für die Konjunktur.

Für die Aktien- und Edelmetallmärkte stellt sich nun die „Gretchen-Frage“: Wann endet die restriktive Zinspolitik? Für mich: Spätestens im Jahr 2023. Die amerikanische Fed hat seit März 2022 die Zinsen schrittweise um etwa drei Prozent angehoben. Im gleichen Zeitraum ist die Rendite zehnjähriger Treasuries von 2,5 % auf über 4 % angestiegen. Der frühere Fed-Chef Paul Volcker bezifferte den Zeitraum der negativen Auswirkung steigenden Zinsen auf die Wirtschaft auf bis zu vier Quartalen.

Der deutsche Immobilienmarkt signalisiert bereits „Achtung“. Schon etliche Baufirmen klagen, dass Aufträge storniert werden. Grundstückskäufe (Zusagen) werden zurückgezogen, weil der Bau jetzt 100.000 Euro teurer geworden ist. Und die Finanzierung mit 1,7 % geplant, kostet jetzt 3,7 %. Bei einer Finanzierung von ursprünglich 400.000 Euro (jetzt 500.000 Euro) sind das ca. 1.000 Euro monatliche Mehrkosten. Viele Banken lehnen die Finanzierung nun ab. Die Sparkassen berichten jüngst über den Einbruch bei Baufinanzierungen.

Auch in den USA ist die 30y-Fixed Mortgage Rate von 2,65 % auf 6,7 % gestiegen. Dies war letztmals 2008 der Fall. Damals gab es dann einen kräftigen Einbruch der Hauspreise. Heute sind die Priese der Immobilien aber doppelt so hoch (Shiller Home Price Index). Im Sommer ging der Index erstmals seit 2011 wieder rückwärts. Der Anteil der US-Wohnkosten bei den Privathaushalten stieg von 28,6 % in 2020 auf nun 44,5 %. Die Fed hat seit 1953 im Durchschnitt fünf Monate nach der letzten Zinserhöhung die Zinsen wieder gesenkt.

Auch ein rein mathematischer Effekt spricht für ein nahes Ende der Zinserhöhungen: Der Basiseffekt! Bereits im Januar 2022 wurde die Inflationsrate mit 4,9 %  ermittelt. Bis März 2022 stieg sie auf übersieben Prozent, die bis Oktober auch noch weiter gestiegen ist. Die Basis wird also die Steigerungsrate der Inflation drücken, was bedeutet: Die Preise fallen nicht, sondern steigen nur weniger stark weiter. Die Zuwachsraten werden im kommenden Jahr wohl unter 3 % fallen. Die Notenbanken werden eine solche Entwicklung als Erfolg ihrer Strategie verbuchen und eine Phase einer gelockerten Politik einläuten. Es gilt eine Rezession zu vermeiden, die, aufgrund der hohen Verschuldung, eine neue Kredit- und damit Bankenkrise nach sich ziehen würde.

Auf ein Ende des Anstiegs der Zentralbankzinsen dürften die Aktien- und Edelmetallmärkte positiv reagieren. Die Bodenbildung der Kurse sollte sich bis dahin fortsetzen. In diesen „nervigen“ Börsenphasen wechseln die Werte oft von „schwachen“ in „starke“ Hände. Dies bedeutet auch, dass die Kurse beider Märkte dann höher steigen, als wir uns das heute vorstellen. Eine solche Aktienrallye sollte aus heutiger Sicht zum verstärkten Aufbau von Liquidität genutzt werden. Da die Fed die Zinsen stärker reduzieren wird als die EZB, dürfte der US-Dollar zur Schwäche neigen.

Der Grundstein für die heutigen Probleme wurde seit 2011 gelegt, als man die Zinsen in Zeiten boomender Wirtschaften mit Gewalt bis hin zu negativen Realzinsen weiter nach unten drückte. Derartiger Zinsirrsinn fördert die Fehlallokation von Kapital und vor allem den Kredit finanzierten Konsum. Die Problematik dieser Strategie ist schwer erkennbar, solange sich dieser Trend fortsetzt. Das fast logische Aufkommen der Inflation hat die Notenbanken zu Zinserhöhungen gezwungen. Jetzt werden die Probleme nicht nur sichtbar, sondern die Bekämpfung der Problematiken ist wegen der doppelt so hohen Verschuldung wie 2008 (USA verdreifacht) auch massiv schwieriger geworden.

Wenn sich die Kaufkraftverluste der Konsumenten fortsetzen, werden sich die Gewinnprognosen der Unternehmen eintrüben und zum Problem für die Börsen werden. Steigen dann entgegen dem Willen der Notenbanken die Zinsen, weil die Börsenteilnehmer steigende Risiken erkennen? Das hätte weitere, negative Auswirkungen auf die Wirtschaft, Aktienkurse und Immobilienpreise fallen noch tiefer, Edelmetalle werden dagegen fast täglich teurer. Eine negative (für Edelmetalle positiv) Spirale wird losgetreten. Eine solche Entwicklung würde allerdings nicht nur eine tiefe Rezession auslösen, sondern die Preise kräftig zurückbringen, die Arbeitslosenzahlen deutlich erhöhen und damit den Lohnsteigerungsspielraum im Keim ersticken. Die Inflation würde ihren Schrecken verlieren.  Der Anleger könnte mutiger werden. Liquidität wäre da. Die Edelmetalle sollten im Depot Gewinne ausweisen, so dass aufgrund der sich ändernden Situation, diese mit Gewinn reduziert werden könnten. Aber so weit sind wir noch nicht.

Franz Beckenbauer würde jetzt sagen: Schau´n wir mal.

Kolumne von Rolf Ehlhardt, Vermögensverwalter, I.C.M. Independent Capital Management Vermögensberatung Mannheim GmbH