Schuldenbremse, oder was? Eine Bestandsaufnahme der globalen Fiskalpolitik

12.06.2024

Eric Winograd, Director—Developed Market Economic Research bei AllianceBernstein. Foto: AllianceBernstein

In Deutschland wird immer noch angeregt über das Einhalten der Schuldenbremse diskutiert, aber wie sieht es mit den Haushaltsdefiziten in anderen Volkswirtschaften aus? Gerade Amerika merkt die Auswirkungen gestiegener Zinsen und hoher Sozialausgaben. Eine Bestandsaufnahme der aktuellen Fiskalpolitik in Amerika, Europa und den Schwellenländern.

Die US-Wirtschaft hat in den vergangenen Jahren mit ihrer herausragenden Entwicklung alle Erwartungen übertroffen. Und die treibende Kraft war ungewöhnlicherweise die Fiskalpolitik. Eine Besonderheit, denn hohe Haushaltsdefizite gehören zwar in wirtschaftlich schwächeren Zeiten zum Konjunkturzyklus dazu. Oft sehen sich Regierungen in dieser Phase gezwungen, durch erhöhte Staatsausgaben die Nachfrage anzukurbeln, um eine Rezession zu vermeiden. Wenn es mit der Wirtschaft wieder bergauf geht, wird die Fiskalpolitik umgedreht, die Steuereinnahmen steigen und Soforthilfeprogramme laufen aus. Genau dies ist im aktuellen Zyklus in den USA jedoch anders.

Sinkende Mittel für Investitionen in der Zukunft

Die demografische Entwicklung erfordert höhere Ausgaben für Sozialleistungen, und die höheren Investitionen in die Infrastruktur und andere pandemiebedingte Prioritäten führen dazu, dass die staatlichen Gesamtausgaben über ihren Niveaus von vor der Pandemie bleiben. Gleichzeitig sind die Einnahmen aufgrund früherer Steuersenkungen zurückgegangen. Das resultierende Defizit von rund 6 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) (s. Abbildung) scheint laut den Prognosen des Congressional Budget Office (CBO) auch in den kommenden zehn Jahren Bestand zu haben.

Das durchschnittliche Haushaltsdefizit der USA liegt in „normalen“ Zeiten bei rund 3,5 % des BIP, also ungefähr 2,5 Prozent unter dem aktuellen Stand, und hätte das Wachstum stärker gebremst. Dieses höhere Defizit hat zwar womöglich dazu beigetragen, das Wachstum zu erhalten. Gleichzeitig bedeutet es jedoch, dass der staatliche Schuldenberg weiterwächst. Das Verhältnis zwischen der US-Staatsverschuldung und dem BIP liegt inzwischen bei über 100 Prozent und dürfte in den kommenden Jahren weiter ansteigen. Kurzfristig wird das zwar keine Krise verursachen, die Kombination aus steigenden Schulden und steigenden Zinsen wird jedoch die Schuldendienstquote – also die Kosten, die die USA für die Tilgung bestehender Schulden aufbringen müssen – in die Höhe treiben. Geld, das dann eben nicht mehr für produktivere Investitionen genutzt werden kann und Mehraufwand, der den fiskalpolitischen Spielraum begrenzen dürfte, wenn die US-Wirtschaft das nächste Mal ins Straucheln gerät.

Europas neue Flexibilität

Auch die europäische Fiskalpolitik hat einen wichtigen Beitrag geleistet, um den Abschwung der europäischen Wirtschaft zu begrenzen, die gleich von mehreren aufeinanderfolgenden Schocks durchgeschüttelt wurde. Im Durchschnitt wuchs das Haushaltsdefizit in den europäischen Staaten zwischen 2020 und 2022 auf 5,3 Prozent. Allerdings bestehen zwischen den einzelnen Volks­wirtschaften beträchtliche Unterschiede: Italien und Frankreich weisen weiterhin hohe Defizite auf, Spanien und Deutschland sind hingegen in einer nachhaltigeren Position. Die Gesamtschulde­nquote der Eurozone, die vor der Pandemie sogar rückläufig war, ist mittlerweile wieder auf 88 Prozent gestiegen und wird Erwartungen zufolge hoch bleiben.

Gegenwärtig übertreffen sowohl das Haushaltsdefizit als auch die Schuldenquoten die im Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) vorgesehenen Obergrenzen von 3 bzw. 60 Prozent. Trotzdem war 2023 der fiskalische Impuls – die Auswirkungen der Staatsausgaben und Steuerpolitiken auf das Wirtschaftswachstum – negativ. Dies dürfte auch 2024 so bleiben, da die Staaten ihre Stützen im Energiebereich weiter zurückfahren. Zudem ist der SWP, der 2020 ausgesetzt wurde, 2024 wieder in Kraft. Eine Folge davon: Länder, die 2025 beabsichtigen, die Schuldenobergrenze zu überschreiten, riskieren ein „Verfahren bei übermäßigem Defizit“ (VÜD). Dies wiederum könnte­ die kurzfristige Volatilität anheizen. Der SWP soll aber die Haushaltsdisziplin fördern. Immerhin sind Länder, die sich in einem Defizitverfahren befinden, gezwungen, größere fiskalpolitische Anpassungen umzusetzen.

Letzten Endes ist das Hauptziel des neuen SWP die Haushaltskonsolidierung. Die Europäische Kommission geht davon aus, dass das Defizit 2025 auf 2,8 Prozent des BIP sinkt; in Großbritannien könnte sich ein ähnlicher Trend ergeben (s. Abbildung), auch wenn das Jahr aufgrund der anstehenden Wahlen schwierig werden könnte. Wie in der EU wird auch in Großbritannien der fiskalische Impuls negativ werden und über mehrere Jahre hinweg im negativen Bereich bleiben. Die Regierung muss sich ebenfalls an Haushaltsregeln halten und die Schulden- und Defizitquote innerhalb von fünf Jahren senken. Es wird erwartet, dass beide Ziele erreicht werden. Alles in allem scheinen die europäischen Volkswirtschaften zu einer neuen Normalität übergegangen zu sein, die sich durch flexible fiskalpolitische Disziplin auszeichnet.

Schwellenländer: Fiskalpolitische Fortschritte in Lateinamerika und im Nahen Osten

In den vergangenen Jahren waren Überschuldung, verzögerte staatliche Insolvenzverfahren und die Schuldenstreuung die zentralen Themen, die viele Schwellenländer dominierten. Die Gesamtverschuldung der Staaten, ausgenommen China, wird sich nach aktuellen Schätzungen auf dem aktuellen Niveau von knapp 60 Prozent des BIP stabilisieren, also etwa 7 Prozent über dem Vorpandemieniveau. Afrika, Asien und Europa hatten nach der Pandemie Mühe, wieder zu einer soliden Fiskalpolitik zurückzukehren, während die Staaten in Lateinamerika und im Nahen Osten relativ erfolgreich neue Haushaltspuffer aufbauen konnten.

Insbesondere die fiskalpolitischen Fortschritte in Lateinamerika spiegeln eine umsichtige Haushaltspolitik wider, aber auch das starke Wirtschaftswachstum, das zum Teil auf den amerikanischen Exzeptionalismus zurückgeht. Im Nahen Osten verbesserte sich die Schuldendynamik vor allem dank der gestiegenen Ölpreise. Volkswirtschaften, die stärker im US-Konjunkturzyklus integriert sind (oder einen hohen Teil ihrer Einnahmen mit Erdöl erwirtschaften), waren relativ erfolgreich bei der Schuldenkonsolidierung; stärkere Verbindungen mit Europa und China zahlten sich in diesem Konjunkturzyklus hingegen weniger aus.

Für die steigende Verschuldung Asiens war vor allem China verantwortlich. Betrachtet man die Staatsverschuldung in ihrer Gesamtheit einschließlich der Tätigkeiten von Finanzierungsvehikeln von Lokalregierungen, staatlich gelenkten Fonds und Bau-Sonderfonds, ergibt sich ein Anstieg der Verschuldung auf mittlerweile 120 Prozent des BIP. Vor zehn Jahren waren es noch rund 50 Prozent. Ein Trend, der sich noch verstärkten dürfte: Laut den Prognosen des Internationalen Währungsfonds werden die chinesischen Staatsschulden in absehbarer Zeit schneller steigen als diejenigen der USA.

USA und China erhöhen Gefahr eines Crowding-outs bei Investitionen in Schwellenländer

Der Verzicht der beiden größten Volkswirtschaften der Welt auf fiskalpolitische Einschränkungen könnte die Abwärtsrisiken für das globale BIP-Wachstum begrenzen, aber ebenso zum „Crowding-out“ der Finanzierung der Schwellenländer führen. Denn wenn weniger Finanzierungsquellen bereitstehen und gleichzeitig der Finanzierungsbedarf steigt, wären sogar noch mehr Haushaltseinsparungen erforderlich (s. Abbildung). Was könnte helfen, diesen Druck zu mindern? Sicherlich bleibt es wichtig, rasch Abhilfe bei drohenden Staatsbankrotten zu schaffen, auch die jüngsten finanziellen Unterstützungsmaßnahmen sowie die politischen Signale multilateraler Organisationen könnten hilfreich sein. Die Berücksichtigung von auf Staaten bezogene Faktoren für Schuldenumstrukturierungen und der erneute Marktzugang für Frontier-Märkte könnten die mittelfristigen Finanzierungskosten senken, falls die Ziele erreicht werden.

Marktkommentar von Eric Winograd, Director – Developed Market Economic Research bei AllianceBernstein