Quo vadis USA?
12.10.2015
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Wie geht es weiter in den USA? Die Stimmung in den USA wie auch bei den ausländischen Investoren scheint besser als es die Zahlen und Fakten rechtfertigen.
Die fällige kalte Dusche lieferte Janet Yellen, die Frau an der Spitze der Notenbank Fed. Sie beließ zusammen mit ihren Kollegen die Leitzinsen auch im September unverändert und enttäuschte die Märkte, die ganz auf den Vollzug der seit langem angekündigten Zinserhöhung gesetzt hatten. Stattdessen bleibt der seit 2008 herrschende Krisenmodus mit Nullzinsen in Kraft. „Zinserhöhungen noch in diesem Jahr“, lautet die einzige, bislang nicht überholte Ansage von Yellen, oberste Währungshüterin der USA. Es komme aber darauf an, dass sich die Wirtschaft weiter in die richtige Richtung bewege. Und da nannte sie gleich selbst ein paar Schwachpunkte. Ganz vorne der Arbeitsmarkt, der zwar inzwischen wieder eine niedrige Arbeitslosenquote ausweist (zuletzt 5,1 %), was allerdings nicht zuletzt auf erhebliche Verdrängungseffekte zurückzuführen ist, denn der Anteil der US-Bürger ohne Jobchance ist gewachsen und taucht nicht mehr in der Statistik auf. Doch die Krise nach 2008 hat die Wirtschaft so stark geschädigt, dass einfach nicht genügend Jobs zur Verfügung stehen. Denn die Beschäftigung in den USA bröckelt gerade in der Kerngruppe, den Männern von 25 bis 54 Jahren, ab. Dort zählen nur noch 88 von 100 als Berufstätige, rund 5 Prozentpunkte weniger als in allen anderen Industriestaaten. Die schwache Entwicklung des Arbeitsmarktes wird nicht zuletzt auch am dürftigen Lohnwachstum erkennbar, die auf eine hohe Marktmacht der Unternehmen und eine entsprechend schwache Verhandlungsposition der Arbeitssuchenden hinweist. Diese Schieflage hält schon ziemlich lange an, und das mit herben Konsequenzen: Nur das obere Drittel der Haushalte hat seit Mitte der 90er Jahre überhaupt Einkommenszuwächse erzielt, der Medianhaushalt hatte in 2014 preisbereinigt rund 8 % weniger zur Verfügung als 1999. Im Vergleich zu 2007 (vor der Krise) beträgt der Rückgang 6,5 %.
Diese schwache Einkommensentwicklung wirkt ziemlich merkwürdig angesichts der starken US-Wachstumszahlen: Das (inflationsbereinigte) BIP hat gegenüber 1999 um rund 31 % zugelegt, gegenüber 2007 beträgt der Zuwachs immerhin noch fast 8 %. An diesen Zuwächsen war die untere Hälfte der Haushalte nicht beteiligt, sie sind sogar in diesem Zeitraum ärmer geworden. Und hier reden wir tatsächlich von Armut: Rund 15 % der US-Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze mit dem Anrecht auf Lebensmittelmarken („foodstamps“), der wichtigsten Form der kargen staatlichen Sozialhilfe in den USA. Diese Fakten sollten eigentlich Misstrauen wecken gegenüber dem Strom der guten Nachrichten aus den USA. Immerhin entstehen rund 70 % der für die Konjunktur entscheidenden effektiven Nachfrage in den USA durch den Konsum der privaten Haushalte. So zeigt ein genauerer Blick in aktuelleren Zahlen zur Produktion, dass es um die US-Industrie nicht besonders gut bestellt ist. Die Aufträge entwickeln sich eher schwach, dazu kommen negative Signale der regionalen Indikatoren, die von den einzelnen Mitgliedsbanken des Federal Reserve erhoben werben, vor allem aus dem Nordosten (New York und Philadelphia). Hier macht sich mittlerweile neben der eher schwachen Konsumneigung der US-Haushalte auch der starke Dollar als Exporthindernis bemerkbar, was Umsatz und Beschäftigung kostet und mittlerweile auch auf den Output durchschlägt: Die Industrieproduktion lieferte von Dezember 2014 bis August 2015 siebenmal rückläufige Zahlen, dazu eine Null.
Eine starke Erholung sieht anders aus. Dennoch ist die Überzeugung von einem starken US-Aufschwung weit verbreitet. Die optimistischen Einschätzungen liefern die starken Wachstumszahlen, die regelmäßig aus den USA gemeldet werden. Einige Skepsis ist jedoch angebracht. Experten wie Erwin Diewert, renommierter Spezialist für internationale Kaufkraftvergleiche an der University of British Columbia, kritisieren schon länger die kreative Buchführung der Amerikaner, mit der die US-Wachstumszahlen um 75 bis 150 Basispunkte über die nach den international üblichen Standards hinaus aufgeblasen werden. Die wirksamsten Verzerrungen kommen bei der Datenbereinigung zum Tragen, wenn aus den Rohdaten (wie Umsätzen zu laufenden Preisen) die realen Daten hergeleitet werden, indem die Effekte von Inflation oder Qualitätsverbesserungen durch technischen Fortschritt hinein- oder heraus gerechnet werden müssen. Hier werden bei den US-Zahlen konkret gemessene Rückgänge zu realen Zuwächsen „korrigiert“ wie bei einer Firma, die zwar laufend operative Verluste macht, sich aber gleichzeitig so große Wertzuwächse auf ihr Vermögen gutschreibt, dass unterm Strich Gewinne ausgewiesen werden. Es gibt von daher gute Gründe für einen generell vorsichtigen Umgang mit US-Daten, nicht nur wegen der widersprüchlichen Arbeitsmarktdaten. Die amtliche Informationspolitik ist auch bei den Daten zum US-Außenhandel eher durchsichtig. Die amtliche Statistik informierte bis 2014 gesondert über den Handel mit „advanced technology products“ und meldete dabei Monat für Monat Defizite. Die High Tech Unternehmen haben eben, wie die US-Industrie insgesamt, einen Großteil der Wertschöpfung ins Ausland verlagert, von der Forschung bis zur Endmontage. Lieferungen aus dem Ausland sind aber auch dann Importe, ob sie nun von Töchtern oder Zulieferern der einheimischen Konzerne stammen. Von den im Ausland gezahlten Löhnen haben weder die US-Arbeitnehmer noch der US-Fiskus etwas. Über dieses peinliche Defizit des High Tech-Landes USA wird jetzt nicht mehr offen informiert, es ist aber unverändert aus dem Zusammenhang mehrerer Positionen zu erschließen.
Im Hintergrund lauert aber noch ein Problem: der in den USA (anders als in Europa) fühlbar wirksame Vermögenseffekt. Dieser erfasst, wie stark sich der Konsum der privaten Haushalte ändert, wenn die Bürger reicher oder ärmer werden. Der Effekt spielte beim Einbruch der Märkte im Gefolge der Lehman-Pleite eine zentrale Rolle als Brandbeschleuniger, zumal relativ schnell ein echtes Bilanzproblem hinzu kam. Die anfängliche Korrektur der Immobilienpreise führte zu geringeren Kreditspielräumen, weil mit den fallenden Preisen bei unveränderten Schulden der Eigenanteil („equity“) und damit der Beleihungswert rapide schrumpft. Weniger Kredit bedeutet aber weniger Immobilien-Nachfrage, was die Preise weiter drückte und damit wieder den Kreditspielraum weiter einengte. Die Nullzins-Politik führte aus der Krise heraus, denn grundsätzlich gilt: Immobilienpreise und Wertpapierkurse steigen umso steiler, je stärker die Zinsen fallen. Zinsen auf null war also das stärkste Gegengift. Die enorme Wirkung dieses Mechanismus bestätigte sich auch in diesem Fall: Das Nettovermögen der privaten Haushalte legte von Ende 2009 bis Ende 2014 um 26.835,6 Mrd. Dollar zu, davon laut Fed 18.422,1 Mrd. Dollar (68,5 %) reine Kurs- bzw. Preiszuwächse („holding gains at market value“). Mit den Vermögen wuchsen wieder die Kreditspielräume, die Immobilienpreise erholten sich und die Stimmung verbesserte sich soweit, dass der Konsum wieder ein wenig Fahrt aufnahm. Der Haken: Da nur zum kleineren Teil echte Schuldentilgungen und Investitionen hinter dem Vermögenszuwachs stehen, würden die jetzt so dringend erwarteten höheren Zinsen die Vermögenswerte möglicherweise wieder soweit drücken, dass zuerst der Immobilienmarkt und dann die Konjunktur erneut kollabieren.
Und genau vor diesem Kardinalfehler aller Geldpolitik fürchten sich Fed-Chefin Yellen und ihre Kollegen letztlich mehr als vor einer neuen Blase. Zudem haben die Gegner einer schnellen Zinserhöhung den Inflationstrend auf ihrer Seite, denn die Teuerung liegt in den USA unter dem Ziel der auch für Wachstum und Beschäftigung verantwortlichen Währungshüter. 0,2 % Inflation sind kein Argument für höhere Zinsen, und selbst wenn der Effekt der niedrigeren Ölpreise in der so genannten Kernrate heraus gerechnet ist, bleibt es mit 1,8 Teuerung auf einem Niveau, das letztlich eher Konjunktur- als Stabilitätsprobleme anzeigt. (mk)