Quo vadis, internationale Finanzmärkte?

11.08.2020

finanzwelt: Bleiben wir einmal bei Europa. Glauben Sie an ein nachhaltiges Comeback europäischer Aktien angesichts der jüngsten Outperformance gegenüber den USA?

Eichler: Ja, Europa geht wieder aufeinander zu. Mit den jüngsten Maßnahmen wie dem Wiederaufbaufonds und dem Green Deal sollte Europa wieder in eine gemeinsame Richtung geleitet werden. Auch der Weg in eine große Transfer- und Fiskalunion ist geebnet. All dies nimmt den Druck von schwächeren Mitgliedsstaaten und bietet den Europa-Zweiflern und Kritikern weniger Angriffsfläche. Zudem dürfte sich Europa gegenüber den USA aufgrund eines besseren Gesundheitssystems und dem breiten Einsatz von Kurzarbeit sowie anderen staatlichen Überbrückungshilfen besser entwickeln. Europas Wirtschaft – und dementsprechend auch die Aktienmärkte – können in der kommenden Erholung sofort wieder durchstarten. Dr. Kaffarnik: Ich möchte das etwas relativieren. Europa fällt erwiesenermaßen bei vielen Schlüsseltechnologien weiter zurück. Vergleichbare etablierte, erfolgreiche Geschäftsmodelle wie wir sie in den USA (Amazon) und China (Alibaba) sehen, gibt es auf dem europäischen Kontinent nicht. Und Vorhaben, um gegenüber der globalen Konkurrenz nicht weiter ins Hintertreffen zu geraten, dauern lange. Somit haben wir einen strukturellen Nachteil gegenüber den Wettbewerbern in West und Ost. Das bedeutet, wir könnten uns lediglich eine vorübergehende Outperformance der europäischen Märkte vorstellen.

finanzwelt: Werden Wachstumstitel nach der Krise weiterhin im Fokus stehen oder glauben Sie an eine baldige Renaissance der Value-Werte?

Eichler: Unser Team vertritt die Überzeugung, dass sich Value langfristig durchsetzen wird. Gerade in wirtschaftlichen Erholungsphasen wie der aktuellen bieten Value-Werte weiterhin ein attraktives Aufholpotenzial. Auch in der Vergangenheit waren diese Phasen diejenigen, in denen Value outperformte. Betrachtet vom niedrigen Ergebnisniveau des Jahres 2020 dürften viele Unternehmen aus diesem Bereich ihre Ergebnisse viele Jahre in Folge steigern können. Das bietet auch für deren Aktienkurse ein langanhaltendes Aufwärtspotenzial. Noch ist die Skepsis gegenüber diesen Werten allerdings groß. Bröning: Kurzfristig spricht tatsächlich vieles für eine weitere Outperformance von Wachstumstiteln (Ausweitung der Geldmenge und Zinssenkungen der Notenbanken). Anleger stören sich derzeit nicht an den im Vergleich zur Vergangenheit teils sehr hohen Bewertungen vieler Growth-Aktien. Geht man davon aus, dass die Rettungsmaßnahmen der Staaten und Notenbanken Erfolg haben und die Corona-Pandemie überwunden wird, kann die massive Ausweitung der Geldmenge einen neuen Börsenaufschwung auslösen. In einem solchen Szenario werden sich Investoren zunehmend die Frage stellen, welche Aktien noch nicht zu teuer sind und den bisherigen Anstieg noch nicht mitgemacht haben und somit über Aufholpotenzial verfügen. Das dürfte die Value-Aktien in den Fokus rücken.

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