Lieferdienste: Armageddon für Finanzinvestoren
15.12.2022
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Inflation, hohe Zinsen und risikoaverse Investoren haben den Optimismus im Quick-Commerce mit Lebensmitteln abrupt beendet. Investoren sehen sich mit Abwertungen ihrer Beteiligungen von bis zu 60 % konfrontiert. Die Gründe für die enttäuschende Entwicklung im eFood-Sektor liegen allerdings deutlich tiefer.
Das ist das Ergebnis der neuen Studie des auf Konsum und Handelsimmobilien spezialisierten Beratungsunternehmens Habona Invest Consulting aus Hamburg. „Q-Commerce ist nicht nur in Deutschland sehr weit entfernt von einer flächendeckenden Versorgungsalternative. Der Blick nach Großbritannien, USA oder Südkorea hätte geholfen, die Erwartungen realistischer zu sehen,“ erklärt Manuel Jahn, Autor und Herausgeber der Studie.
Der krisenresiliente Lebensmittelmarkt lockt Investoren
Der deutsche Lebensmittelmarkt ist mit einem Umsatz von rund 215 Mrd. Euro nach China der fünftgrößte Lebensmittelmarkt der Welt. Aus Deutschland kommt der größte europäische Lebensmittelhändler mit einem Umsatz von rund 130 Mrd. Euro. Und die deutschen Verbraucher werden den Supermärkten und Discountern auch 2022 wieder Rekordumsätze bescheren, wie zuvor sogar in der Pandemie. Investoren suchen hier händeringend nach Einstiegsmöglichkeiten. Allerdings sind ihre Möglichkeiten begrenzt: Über 95 % des Marktes befinden sich im Eigentum genossenschaftlicher oder nicht-börsennotierter Unternehmen.
Hoch gewettet – viel verloren
Eine regelrechte Bonanza hatten deshalb Online-Lebensmittel-Lieferdienste ausgelöst, die in der Pandemie im Wochentakt gegründet wurden und mit sagenhaften Wachstumsperspektiven um die Gunst von Venture-Capital warben. Lieferversprechen von 10 Minuten versprachen eine Revolution im ansonsten knapp kalkulierenden Lebensmitteleinzelhandel. Die Nachfrage der Investoren machte aus Start-ups innerhalb weniger Monate nicht selten Unicorns, Unternehmen mit einer Marktbewertung von über 1 Mrd. US-Dollar. Mit der deutlich gewachsenen Risikoaversion der Investoren seit Beginn des Ukraine-Krieges fehlt dem eFood-Sektor nun das nötige Kapital, um die Expansion fortzusetzen.
Jahn, Geschäftsführer Habona Invest Consulting: „Das für Start-ups notwendige Umsatzwachstum ist viel zu niedrig. Trotz Corona-Push kommt der Marktanteil auch 2022 kaum über 2 % hinaus. Mit erzwungenen Kostensenkungsprogrammen rückt der zuvor formulierte Anspruch der Lieferdienste auf perspektivische Substitution des klassischen Lebensmitteleinzelhandels in weite Ferne.“ Aktuell müssen Anleger Wertabschläge von bis zu 60 % ihrer Einlagen hinnehmen.
Kommt eine nächste Angriffswelle?
Ist der Angriff auf den deutschen Lebensmitteleinzelhandel damit aufgehoben oder nur aufgeschoben? Ist eCommerce nicht generell die zeitgemäßere Art des Einzelhandels, die früher oder später auch bei Lebensmitteln ähnlich hohe Marktanteile erobern wird wie im Nonfood-Sektor? Was können die Dinosaurier des deutschen Lebensmitteleinzelhandels überhaupt den agilen Erfindern und Story-Tellern entgegensetzen?
Steht die Übernahme von Gorillas durch das türkische Unternehmen Getir für den Anfang einer eFood-Konzentrationswelle in Europa? Was lehren uns Entwicklungen in anderen Industriestaaten?
eFood heißt immer mehr Click & Collect und Pick & Go
Die Habona-Studie hat unter anderem Informationen und Trends in Deutschland, Großbritannien, USA und Südkorea auf eine vergleichbare Datenbasis gebracht, um eine Prognose für die zukünftige Entwicklung des deutschen Lebensmitteleinzelhandels abzuleiten. Demnach ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich die stationären Platzhirsche das Geschäft aus der Hand nehmen lassen werden. Lebensmittel online einkaufen heißt künftig auch in Deutschland: zuhause oder unterwegs bestellen, aber im Supermarkt abholen. In den USA sind bereits 40 % der eFood-Umsätze Click & Collect zuzuordnen, in Großbritannien immerhin schon 22 %. Und dieses Geschäft ist das Geschäft der großen Ketten.
Q-Commerce bleibt dagegen ein Nischenangebot und wird auch nach der sich anbahnenden großen Konzentrationswelle die Erwartungen von Investoren nicht erfüllen können. Investitionen in die stationäre Infrastruktur, also in moderne Verkaufs- und Logistikflächen mit soliden Mietverträgen der bekannten Lebensmittelhändler, werden sogar noch an Attraktivität zulegen. (ml)