Klimaneutralität – mit Denkfehler im System
21.04.2021
Eoin Murray, Head of Investment - Foto: © Federated Hermes
Ob auf staatlicher oder auf Unternehmensebene – Ankündigungen über Pläne, mit denen in ferner Zukunft die Klimaneutralität erreicht werden kann, sind derzeit in Mode.
Sie legen eine nicht vorhandene Einfachheit zugrunde und beinhalten einen Denkfehler, dessen weitere Verbreitung die globale Umstellung auf eine tatsächliche Klimaneutralität massiv untergraben könnte.
Die Fehlannahme: Erneuerbare und nicht erneuerbare Energien werden jeweils in eine Waagschale gelegt in der Annahme, sie könnten einander ausgleichen. Die Rechnung mag buchhalterisch nachvollziehbar sein – zudem ermöglicht sie es Unternehmen, sich für ihre Anstrengungen selbst zu gratulieren. Unterm Strich aber: ein Irrtum.
Klimawandel ist keine statische Rechenaufgabe
Die Vorstellung, dass Positionen in erneuerbaren Energien auf interner Ebene zur Kompensation von Emissionen im Portfolio genutzt werden können, kommt der Behauptung gleich, dass 0 + 2 = 0 sind. Dies ist eine Milchmädchenrechnung, die in letzter Zeit leider häufig aufgestellt wurde. Richtiger wäre die Gleichung 0,5 + 2 = 0, denn es muss berücksichtigt werden, dass auch Projekte im Zusammenhang mit erneuerbaren Energien nicht emissionsfrei sind. Sogenannte „graue“ Emissionen entstehen während des gesamten Lebenszyklus von Energieinfrastrukturprojekten, insbesondere bei der Gewinnung der für den Bau verwendeten Rohstoffe und während des eigentlichen Bauprozesses. Ein 200 Meter hoher Wasserkraft-Staudamm aus Beton ist am Tag seiner Inbetriebnahme nicht klimaneutral.
Es lässt sich argumentieren, dass der derzeitige Betreiber eines Staudamms nicht für die mit dem Bau verbundenen Emissionen verantwortlich ist, wenn er den Damm erst nach der Fertigstellung übernommen hat. Dieses Argument besitzt eine gewisse Plausibilität, da er weder für die Beauftragung des Bauunternehmens noch für die Anweisungen an Projektarchitekten, Ingenieure, Gutachter, Konstrukteure und andere Fachkräfte verantwortlich ist, die zur Klimabilanz des Projekts beigetragen haben. Doch kann er die gerechtfertigte Behauptung aufstellen, eine „unabhängige Leistung“ zu erbringen, d. h. dass die beim Betrieb des Damms „vermiedenen“ Emissionen die Emissionen ausgleichen, die beim Bau – für den er keine Verantwortung trägt – entstanden sind?
Dies sind komplexe Fragen, mit denen einige Anleger sich heute bei der Bestimmung des Umfangs ihrer Dekarbonisierungsstrategie intensiver auseinandersetzen. Marktführer übernehmen Verantwortung für die Wertschöpfungskette, die sie steuern und beeinflussen, und legen Parameter für die Zuordnung von Verantwortlichkeiten (Ownership) fest.
Nachzügler auf diesem Gebiet stützen sich hingegen weiter auf strenge gesetzliche Kontrollen bei ihren lückenhaften Analysen und haben ein falsches Verständnis der wirtschaftlichen Faktoren im Zusammenhang mit der Dekarbonisierung – sowie ihrer Fähigkeit, diese zu beeinflussen. Klimaneutralität ist eine Entscheidung der Kapitalanlagenverwaltung, die ihre eigenen effektiven Transformations- und Rendite-Chancen birgt. Sie ist mehr als ein aktuelles Schlagwort.
Die Hauptfehlerquelle ist, dass die Berechnungsgrundlage für die Effekte des Klimawandels im Wesentlichen statisch ist. Das Gegenteil ist der Fall: Kalkulationen im Zusammenhang mit dem Klimawandel, der globalen Erwärmung sowie Emissionen sind äußerst komplex, hoch dynamisch und auf lokaler und globaler Ebene miteinander verwoben. Wenn Klimaauswirkungen nicht als simple Rechenaufgabe betrachtet werden können, kann das Erreichen von Klimaneutralität auch nicht als einfache Gleichung behandelt werden – obwohl dies derzeit noch häufig geschieht. Auch wenn sich Energieproduktion und Energieverbrauch theoretisch in einem ausgewogenen Verhältnis gegenüberstehen, führt dies nicht zur CO2-Neutralität der Emissionen. Anders ausgedrückt: Energie ist nicht gleich Energie.
Wenn man jedoch von dieser Fehlannahme ausgeht, könnten die Anleger einfach so viel mit fossilen Brennstoffen erzeugten Strom finanzieren, wie sie mit Positionen in Windturbinen wieder ausgleichen können – eine neutrale Klimabilanz wäre gewährleistet.
Die Disruption: Emissionen vermeiden, indem man sie nicht beseitigt
Wir haben es hier mit einem weiteren Problem zu tun: Die Kompensation mithilfe erneuerbarer Energien entspricht der Vermeidung von Emissionen – nicht der Beseitigung bereits vorhandener Emissionen in der Atmosphäre. Fakt ist, dass Klimaneutralität angesichts der aktuellen Wachstumsrate von Emissionen weder durch eine „Ökologisierung“ des Energiesystems noch durch reine Kompensationen erreicht werden kann. Vielmehr müssen die absoluten Emissionen reduziert werden. Je schneller diese gesenkt werden und je früher die Verringerung von Emissionen in sämtliche Wirtschaftsaktivitäten integriert wird, desto grösser der wirtschaftliche Effekt. Rechtliche, regulatorische und systemische Risikoparameter können heute mit ausreichender Genauigkeit beziffert werden, und dies zu ignorieren, könnte als Verstoß gegen die treuhänderische Verantwortung ausgelegt werden.
Die Entwicklung einer umfassenden Strategie stellt eine Herausforderung dar, die Anlegern jedoch auch Anlagegelegenheiten innerhalb und außerhalb bestehender Portfolios bietet.
Eine dieser Gelegenheiten liegt in der Kompensation von Emissionen. Hier ist jedoch zu beachten, dass die Kompensation das letzte Mittel ist, wenn die Möglichkeiten zur Reduzierung von Emissionen ausgeschöpft sind.
Besser als Nichtstun ist dies jedoch allemal, und heute können sich Anleger dabei auch auf Aktivitäten wie die Kohlenstoffbindung fokussieren, etwa durch den Kauf von Grundstücken zur Anpflanzung von Bäumen oder Investitionen in CCS-Technologien, also die Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid.
Die Herausforderung besteht dann darin, die Kohlenstoffabscheidung akkurat in Tonnen zu messen. Dies ist einer der schwierigsten Aufgaben des Prozesses, die zudem selten gelingt. Wird sie jedoch korrekt umgesetzt, können die Anleger die Beseitigung von CO2 in ihre Wertschöpfungskette aufnehmen und echten Mehrwert für ihre Kunden generieren.
Auf diese Weise profitieren sie von den finanziellen Chancen, die das Konzept „Just Transition“ bietet – und maximieren den positiven Beitrag für lokale Gemeinschaften, regionale Ökologsysteme und die nationale Wirtschaft.
Insgesamt lässt sich feststellen: Das Erreichen der Klimaneutralität erfordert einen tragfähigeren Ansatz als den bislang verfolgten. Es handelt sich um ein äußerst komplexes Thema, das Anleger direkt angehen müssen. Bei der Überprüfung von Behauptungen bezüglich der Klimaneutralität sollten sie zudem wissenschaftliche Maßstäbe ansetzen. Gelingt ihnen dies, so eröffnen sich Anlagemöglichkeiten, die sowohl Renditen erzielen als auch der Zukunft unseres Planeten zugutekommen.
Kommentar von Eoin Murray, Head of Investment im internationalen Geschäft bei Federated Hermes