Kein Tabu mehr: Versicherer müssen Vertrieb neu denken

16.06.2015

Der Vertrieb war für Versicherer ein Tabu-Thema. Eine Studie zeigt, dass die Assekuranz ihre Vertriebswege neu denken muss, um für Vermittlungsunternehmer, Makler und Bancassurance attraktiv zu bleiben.

2015-06-17 (fw/db) Die Assekuranz in Deutschland stehe, laut einer Studie von Bain & Company, im Herzstück ihres Geschäftsmodells, dem Vertrieb, vor enormen Herausforderungen. Anhaltender Kostendruck, ein rückläufiges Neugeschäft, im Markt weniger Versicherungsvermittler (ohne und mit Erlaubnis) und Versicherungsmakler sowie die Digitalisierung zwängen Versicherungsmanager zum Umdenken.

Nur mit einem tief greifenden Transformationsprozess können die Versicherer in Deutschland der Abwärtsspirale aus fallenden Erträgen und immer neuen Sparprogrammen entkommen.

Die aktuelle Studie „Optimierung im Versicherungsvertrieb: Qualität kommt vor Quantität“ der global erfahrenen Managementberatung Bain & Company zeigt vier wichtige Handlungsfelder auf. Neben unvermeidlichen, deutlichen Kostensenkungen zählen dazu ein modernes Produktivitäts- und Bestandsmanagement, die Ausrichtung auf ertragreiches Wachstum und die konsequente Nutzung der Digitalisierung.

Vertrieb ist kein Tabu-Thema mehr

Seit Jahren beschäftigen sich Versicherer mit der Optimierung ihrer Organisationen in den Vertriebs- und Verwaltungskosten. Eingriffe in die unterschiedlichen Vertriebswege (Ausschließlichkeits-, Makler-, Bank- und Direktvertrieb) vermieden viele Unternehmen. Zu heikel erschienen Einschnitte in kundennahen Bereichen, zu schwierig die Auseinandersetzung auch mit den selbstständigen Vermittlungsunternehmern, als sehr komplex erweist sich die Neustrukturierung des Herzstücks ihres Geschäftsmodells. Inzwischen zwingen der gesättigte Markt und das rückläufige Neugeschäft zahlreiche Versicherer zum Handeln. Die eigenen Ausschließlichkeitsvertriebe mussten zuletzt den stärksten Rückgang im Neugeschäft seit 2008 hinnehmen, wie das Benchmarking von Bain zeigt. Der Trend zur Digitalisierung sowie Veränderungen im Kundenverhalten verschärfen den Druck.

Kostensenkung und Reform der Vertriebswege

Handlungsbedarf und Kostendruck sind immens. Das ist den Versicherungsmanagern durchaus bewusst. So ist dem Bain-Benchmarking zufolge der Kostendruck im Vertrieb die wichtigste Herausforderung für Vorstände. Platz zwei belegen regulatorische Themen, gefolgt von der Ausrichtung des Produktspektrums nach seiner Ertragskraft. Die Versicherer wissen um die Dringlichkeit dieser Aufgaben.

„Konzentrieren sich die Versicherer allein auf Kostensenkungen, droht ihnen eine Abwärtsspirale aus sinkenden Erträgen und zusätzlich nötigen Einsparungen. Ein schleichendes Aus wäre für viele die Folge“, warnt Dr. Christian Kinder, Partner bei Bain & Company und Autor der Studie.

Zwingend erforderlich ist eine tief greifende Veränderung in den Vertriebskanälen. Damit dieser Umbau das operative Geschäft so wenig wie möglich belastet, bedarf es pragmatischer Ansätze und der Verzahnung sämtlicher Maßnahmen. Im Mittelpunkt stehen, laut der Bain-Studie, vier Handlungsfelder:

Kostensenkung: Seit 2012 sinken laut Bain-Benchmarking die Overheadkosten im Vertrieb um durchschnittlich sechs Prozent pro Jahr. Das aber ist zu wenig, denn im Vergleich zum tendenziell rückläufigen Neugeschäft sind die Overheadkosten zuletzt relativ um drei Prozent gestiegen. Mit einem ganzheitlichen strategischen Ansatz lassen sich die Vertriebskosten um bis zu 20 Prozent reduzieren. Die wichtigsten Hebel dafür sind optimierte Vertriebsorganisationen, eine Reform der Agenturmodelle, sowie die Vergütungssysteme.

Produktivitäts- und Bestandsmanagement: Erhebliche Steigerungen seien im Exklusiv-Vertrieb in der Vertriebsproduktivität möglich. Konkret durch die richtigen Fachkräfte oder vertraglich festgelegte Performance-Meilensteine. Es setzen sich immer größere Vermittlerstrukturen durch. Die Zahl der unterstellten Vermittler stieg bei den Teilnehmern des Benchmarkings seit 2008 von 15 auf 25 Prozent. Die Versicherer können ihren Vertrieb bei der Ausschöpfung der Potenziale im Bestand besser unterstützen, zum Beispiel durch die Systematisierung im Akquise- und Verkaufsprozess. Eine wichtige Rolle dabei spielen digitale Hilfsmittel in der Beratung und der intelligente Einsatz moderner Technologien wie Data Mining und Big Data.

Wachstum: Viele Jahre war Wachstum gleichbedeutend mit mehr Umsatz und neuen Kunden. Doch in reifen Märkten müssen vor allem die Bestandskunden differenziert entwickelt und das Neugeschäft risiko- und wertbasiert gesteuert werden. Im Zentrum stehen dabei ertragreiche Produkte, die eine synchronisierte Sicht aller Sparten und Vertriebskanäle verlangen – und damit die Überwindung bestehender Grenzen.

Digitalisierung: Der Anteil digital aktiver Versicherungskunden wird in den nächsten fünf Jahren von heute 50 auf 80 Prozent steigen. Dies ergab eine Bain-Umfrage unter mehr als 10.000 Privatkunden in Deutschland. Zugleich betonen drei von vier Befragten, dass die persönliche Beratung für sie wichtig bleibt. Auf diese hybriden Kunden muss sich der Versicherungsvertrieb einstellen und digitale Kundenerlebnisse entlang der gesamten Wertschöpfungskette schaffen.

Herausforderungen an die Assekuranz sind gewaltig

„Noch nie haben Deutschlands Versicherer vor einer derart tief greifenden Transformation gestanden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der klaren Ausrichtung des Vertriebs an Qualitätskriterien“, sagt Dr. Christina Ellringmann, Bain-Partnerin und Co-Autorin der Studie.

Ursächlich dafür seien vor allem die steigenden Ansprüche der Kunden im digitalen Zeitalter. Darüber hinaus wenden sich gute Versicherungsvermittler gezielt an diejenigen Versicherer, die ein zukunftsträchtiges Vertriebskonzept vorweisen können.

Die Versicherer ihrerseits müssen mit modernen Provisionssystemen Anreize für leistungsstarke Vermittler schaffen und gleichzeitig ihre Vertriebskosten senken.

„Der Vertrieb der Zukunft zeichnet sich durch höhere Effizienz, einen klaren Fokus und den umfassenden Einsatz digitaler Technologien aus. Das wird zweifellos die Grundlage für den zukünftigen Erfolg eines Versicherer sein“, prognostiziert Versicherungsexperte Kinder.

Dietmar Braun