Europas Märkte wieder auf die Menükarte setzen?

15.11.2016

Tim Stevenson

Für europäische Aktienfondsmanager waren die letzten Jahre beileibe kein Zuckerschlecken. Solche und ähnliche Aussagen sollten für gewöhnlich die Alarmglocken schrillen lassen, sind sie doch meist ein wenig überzeugender Versuch, das schlechte Abschneiden eines Fonds zu erklären. Sie könnten jedoch auch eine interessante Sicht darauf sein, welche Folgen politische Unwägbarkeiten im Zusammenspiel mit den zweifellos überbewerteten Anleihenmärkten für die Aktienmärkte haben.

Europa jedenfalls ist im globalen Kontext auch weiterhin auf keiner Menükarte für Anleger zu finden, auf der es inzwischen seit weit über einem Jahr fehlt. Und daran wird sich wohl auch in nächster Zeit nichts ändern, denn der Menübeitrag aus der britischen Küche nach dem Brexit-Votum dürfte wenig appetitanregend sein. Zudem steht zu befürchten, dass die Politik mindestens die nächsten zwölf Monate alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Man denke nur an das Verfassungsreferendum in Italien im Dezember, die Parlamentswahlen in Frankreich im Mai und die Bundestagswahlen in Deutschland im Herbst nächsten Jahres. Wer nach Gründen sucht, warum das Glas in Europa halb leer ist, dürfte schnell fündig werden.

Ein für Europa typisches Gezänk

Das sind die Rahmenbedingungen, mit denen europäische Aktien in diesem Jahr zurechtkommen müssen. Und sobald das Getöse um die Präsidentenwahl in den USA verhallt ist, könnte die Politik in Europa erneut ins Rampenlicht rücken. In einem Jahr wissen wir, ob das Brexit-Votum der Briten nur ein Protest-Strohfeuer war – wenn auch ein nach meiner Meinung äußert unglückseliges. In Spanien jedenfalls hat man sich nach den Wahlen Anfang des Jahres endlich auf einen Kompromiss verständigt. Dort dürfte schon bald eine neue Regierung die Arbeit aufnehmen. Wallonien, einer kleinen Region in Belgien, wäre es beinahe gelungen, ein über Jahre zwischen Kanada und der EU ausgehandeltes Handelsabkommen platzen zu lassen. Auch das konnte in letzter Minute abgewendet werden, wenn auch nach ungeschicktem, für unsere europäischen Spitzenpolitiker so typischem Taktieren?

Doch zurück zur „realen“ Welt der Wirtschaft und der Unternehmen, die derzeit für bessere Daten aus Europa (Großbritannien ausgenommen) sorgt. Anfang 2015 hatte man auf eine Wachstumserholung auf dem alten Kontinent in einer Größenordnung von 1 bis 1,5 Prozent gehofft, was zum gegenwärtigen Zeitpunkt realistisch erscheint. Heute stellt sich die Lage jedoch völlig anders dar als vor einem Jahr. Die Europäische Zentralbank (EZB) – unterstützt von einigen Volkswirten – sah sich daher bemüßigt, einen Versuchsballon aufsteigen zu lassen, der auf ein baldiges Zurückfahren ihres massiven quantitativen Lockerungsprogramms hindeuten könnte. Damit löste sie eine seit Langem überfällige drastische Verkaufswelle an den Anleihenmärkten aus, mit der die Renditen zehnjähriger Bundesanleihen von -0,1% zurück in den Positivbereich auf 0,1% stiegen. Das mag auf den ersten Blick kaum der Rede wert sein. Aber ihre Wirkung auf hoch bewertete längerfristige Wachstumswerte verfehlte sie nicht.

Vereinzelt reiche Ader mit steigenden Gewinnen

In diesem Jahr hat sich die Wirtschaft in den Ländern Europas etwas erholt. Das hatten wir auch für die Unternehmensgewinne erhofft, für die wir im Schnitt mit einem Plus von 12% gerechnet hatten. Aber wie bereits in den letzten drei Jahren haben sich diese 12% praktisch in Luft aufgelöst. Und auch die Gewinnerwartungen für 2017 – ebenfalls ein Plus von 12% – dürften sich mit ziemlicher Sicherheit als zu optimistisch erweisen, da wir bei Erstellung der Prognosen von einer Erholung in den Sektoren Bergbau, Werkstoffe, Banken und Energie ausgegangen waren. Dessen ungeachtet gibt es in diesem Jahr eine Fülle von Aktien mit einem Gewinnwachstum zwischen 5% und 10% aus einer Vielzahl von Branchen. Gleiches dürfte auch für 2017 gelten.

Diese reiche Ader hat indes auch ihre Tücken: Weil in ihr in den letzten drei Jahren intensiv geschürft wurde, werden zahlreiche Aktien heute mit einem hohen Aufschlag gegenüber dem Markt und ihrem langjährigen Durchschnitt gehandelt. Erlaubt sich eines dieser hoch bewerteten Unternehmen einen kleinen Fehltritt, reagieren Anleger heftig: So wurde die Novo Nordisk-Aktie kräftig abgewertet, während die Aktie von Ericsson regelrecht abgestürzt ist. Da Unternehmen jedoch langfristig denken und investieren, wird es immer schwächere Phasen geben, insbesondere in Zeiten mit großen Unsicherheiten wie dem erbitterten Wahlkampf in den USA und dem Brexit-Referendum. Gelegentlich nutzt der Markt solche Phasen, um hoch fliegende Erwartungen und Ausreißer wieder auf den Boden zurückzuholen. Dies und die veränderten Zinserwartungen, die den berühmten Schmetterlingseffekt auslösen könnten, haben die Rotationen an den Märkten in diesem Jahr noch verstärkt.

Chancen an der Spitze?

Was aber heißt das für uns?  Wir haben es heute mit einem überaus uneinheitlichen Markt ohne klaren Führungstrend zu tun. Das könnte sich in den kommenden zwölf Monaten ändern. So gibt es gute Gründe, warum die allgemeine Abneigung gegenüber europäischen Vermögenswerten übertrieben ist: Viele europäische Unternehmen sind Weltmarktführer, und kaum jemand wird bestreiten, dass sich die Volkswirtschaften in der Region gegenwärtig in einer besseren Verfassung befinden als noch vor wenigen Jahren. Extreme politische Ansichten werden vor Wahlen weit mehr Beachtung finden als in den letzten Jahren. Aber die durch das Brexit-Votum ausgelösten Unsicherheiten in Großbritannien zeigen, dass es einfacher ist, über einen radikalen Politikwechsel zu reden, als ihn herbeizuführen.

Letztlich könnte es in einer Welt mit Miniwachstum durchaus sinnvoll sein, eine Prämie für ein europäisches Unternehmen mit verlässlichem Wachstum zu zahlen. Zumal die Prämien mit der letzten Korrektur größtenteils, wenn nicht gar gänzlich abgeschmolzen sind. Ein sorgfältig zusammengestellter Mix aus Qualitätswachstumswerten und attraktiv bewerteten zyklischen Aktien könnte sich also schon bald wieder lohnen.

Kolumne von Tim Stevenson, Fondsmanager und Director of European Equities bei Henderson Global Investors