Europäische Aktien profitieren von strukturellen Trends
28.10.2020
Niall Gallagher - Foto: © GAM
In den vergangenen neun Monaten haben wir enorme Veränderungen beobachtet. Gleichzeitig bestehen eine Reihe längerfristiger konjunkturunabhängiger Trends, die durch die Ereignisse in diesem Jahr teilweise beschleunigt wurden und unseres Erachtens weiter an Dynamik gewinnen werden. Eine der wichtigsten Veränderungen ist die Verlagerung der Konsumausgaben von der Offline-Welt auf Online-Kanäle.
Diese Entwicklung wird sich weiter fortsetzen. Darüber hinaus konnten wir beobachten, dass Asien diese Krise wesentlich besser bewältigte als viele europäische Länder oder die USA. Die ausgeprägte Verlagerung des globalen Konsums zur asiatischen Mittelschicht wurde ebenfalls beschleunigt. Das Konzept der Heimarbeit verdeutlichte die enorme Bedeutung des digitalen Wandels, der durch die diesjährigen Ereignisse weiter vorangetrieben wird. Die Nutzung digitaler Zahlungsmethoden anstelle von Bargeld verstärkte sich ebenfalls – die meisten Menschen bevorzugen die Verwendung einer Karte oder ihres Smartphones, anstatt physisches Geld in die Hand zu nehmen. Die globale Energiewende stellt ein weiteres Thema dar, von dem man vermutlich bereits im Rahmen der Pläne für den «besseren Wiederaufbau» gehört hat. Die fiskalpolitischen Reaktionen einiger Regierungen lassen den Wunsch erkennen, mehr Geld für grüne Initiativen auszugeben, die zur CO2-Reduzierung beitragen. Wir schätzen diese Entwicklungen bereits seit geraumer Zeit als starke Kräfte ein, die insbesondere für europäische Aktien enorme Chancen bergen. Durch die Ereignisse der vergangenen neun Monate wurden diese Kräfte sogar zusätzlich verstärkt.
Brexit bleibt jedoch Unsicherheitsfaktor
Kurzfristig hängt jedoch nach wie vor der EU-Austritt des Vereinigten Königreiches wie ein Damoklesschwert über Europa. Die Mehrzahl der Anleger vernachlässigt allerdings das Thema Brexit mittlerweile und wünscht sich nur noch, dass die gesamte Thematik von der Bildfläche verschwindet. Tatsache ist, dass es sich bei den Verhandlungen überwiegend um Spiegelfechterei und politische Taktiererei handelt. Wir gehen davon aus, dass es letztlich zu einem Abkommen kommen wird. Die Umrisse des Deals sind meiner Meinung nach relativ klar. Tatsächlich kann niemand ein Interesse daran haben, sich ohne Vereinbarung zu trennen. Trotzdem lässt sich nicht ganz ausschließen, dass es zu keinem Abkommen kommt. Dies würde die Angelegenheit erheblich verkomplizieren. Andererseits sind wir davon überzeugt, dass der Großteil des Brexit-Schadens für die britische Wirtschaft bereits entstanden ist. Die Unternehmensinvestitionen im Vereinigten Königreich gingen massiv zurück. Nach dem Abschluss eines Abkommens könnten sie sich jedoch wieder schwungvoll erholen. In der Erwartung, dass ein Deal zustande kommt, beurteilen wir daher die Anlageaussichten für das Vereinigte Königreich als relativ positiv.
Wachsender Einfluss der Schwellenländer auf Europas Aktienmärkte
Derzeit stammen über 45 Prozent der Umsatzerlöse des europäischen Aktienmarktes aus Europa und dementsprechend 55 Prozent von außerhalb Europas. Davon entfallen wiederum nahezu 40 Prozent auf die Schwellenmärkte – zum weitaus größten Teil auf Asien ohne Japan und insbesondere auf China. Der Einfluss der Schwellenländer auf die Entwicklung der europäischen Aktienmärkte entspricht damit der Bedeutung Europas. Zahlreiche Unternehmen werden von einigen der entscheidenden strukturellen Trends beeinflusst, die wir beobachten. Daneben finden wir zudem weitere Unternehmen, die zwar möglicherweise nicht von den gleichen strukturellen Trends angetrieben werden, jedoch selbst attraktiv und günstig bewertet sind. Der Blick in die Zukunft sowie in die unterschiedlichen Bereiche zeigt, dass die Aktien einiger Fluggesellschaften sehr interessant werden, sobald die Menschen wieder reisen. Die europäischen Aktienmärkte weisen somit zahlreiche Faktoren auf, die unser Interesse wecken.
Auswirkungen für die Portfolioallokation
Wir gehen in unserem Anlageprozess im Allgemeinen stilunabhängig vor. Aus der Bottom-up-Perspektive bedeutet das, dass wir uns beim Portfolioaufbau aller Stilkategorien bedienen können. So gibt es Phasen, in denen wir auf Wachstum setzen, während wir zu anderen Zeiten Substanzwerte bevorzugen. Dies wird weniger von der Top-down-Einschätzung, als vielmehr von den Ergebnissen unserer Bottom-up-Analysen bestimmt. Stilfaktoren sind dennoch sehr wichtig. Sie spielen nicht nur für die Diversifikation eine entscheidende Rolle, sondern insbesondere dann, wenn es ums «Stockpicking» geht. Da sich die Struktur der Märkte verändert, ist es wichtig, einem Prozess zu folgen, der darauf ausgerichtet ist, Faktorrisiken zu minimieren, und sich nicht zu stark von Stilen beeinflussen zu lassen. Deren treibende Kräfte ändern sich, und eine zu starke Konzentration auf einen Anlagestil kann im Falle einer Stilrotation zu sehr nachteiligen Auswirkungen führen.
Niall Gallagher, Investment Director für Europäische Aktien bei GAM