Drei Jahre danach

17.08.2023

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In der finanzwelt-Ausgabe 04/2020 hatten wir erstmalig über den Wirecard-Skandal berichtet. In der Zwischenzeit sind drei Jahre vergangen. Dieser Beitrag zeigt eine Rückschau des Wirecard-Skandals, den aktuellen Stand der Prozesse und Ermittlungen gegen Wirecard und hochrangige Manager sowie eine Vorschau auf das kommende halbe Jahr.

Was war passiert?

Die Wirecard AG war ein börsennotiertes deutsches Zahlungsdienstleistungsunternehmen mit Sitz in Aschheim bei München und bot seinen Kunden Lösungen für den elektronischen Zahlungsverkehr, das Risikomanagement sowie die Herausgabe und Akzeptanz von Kreditkarten an. Nachdem es jahrelang mit Wirecard aufwärts ging und die Aktie sogar den Sprung in den DAX schaffte, trat am 27. April 2020 mit der Veröffentlichung des unabhängigen Sonderuntersuchungsberichts der KPMG AG erstmals Ernüchterung ein. Zuvor, im Jahr 2019, hatte die britische Zeitschrift „Financial Times“ mehrfach davon berichtet, dass es bei Wirecard zu fingierten Umsätzen (Third Party Acquiring), überhöhten Kaufpreisen von Gesellschaften zur Bereicherung von Wirecard-Managern, falsch ausgewiesenen Krediten (MCA-Geschäft) und Kreislaufbuchungen (Round-Tripping) über Gesellschaften in den Vereinigten Arabischen Emiraten, den Philippinen und Singapur gekommen war. Der KPMG-Report konnte die Vorwürfe gegen Wirecard nicht gänzlich ausräumen. Insbesondere der Vorwurf, dass auf Treuhandkonten auf den Philippinen 1,9 Mrd. Euro fehlten, wog schwer. Konfrontiert mit den Vorwürfen und dem Nichtwiderlegen dieser, sah sich schließlich die Wirecard AG gezwungen, am 18. Juni 2020 einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu stellen.

Die Konsequenz zeigte sich postwendend: Der Aktienkurs der Wirecard AG brach noch am Tag der Ad-hoc-Mitteilung um 60 % ein, und die Talfahrt der Wirecard-Aktie nahm ihren Verlauf. Am 24. August 2020 wurde Wirecard aus dem DAX entfernt und der Börsenkurs der Aktie landete schließlich bei wenigen Cent. Seit Januar 2022 ist die Aktie für Privatanleger nicht mehr handelbar. Schnell wurde klar, dass ausschlaggebend für den Skandal nicht nur die Wirecard AG selbst ist, sondern auch der Wirtschaftsprüfer, die Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft (EY), welche Bilanzen testierte, die sich nach Nachforschung als falsch erwiesen hätten. Zudem gab es auch massive Kritik an der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Die BaFin ist das Aufsichtsorgan im Bank- und Kapitalmarkt und dafür zuständig, Unternehmen zu beaufsichtigen und bei vermeintlich unzulässigem Handeln einzugreifen. Der ehemalige Präsident der BaFin, Felix Hufeld, wies die Vorwürfe der „Financial Times“ gegen Wirecard bis zuletzt zurück, obwohl es bereits konkreten Anlass zu einer Prüfung seitens der BaFin gab.

Wie ist der Stand heute?

Anleger verloren im Zuge des Wirecard-Skandals Milliarden Euro. Bisher haben sich viele der geschädigten Anleger, ob institutionell oder privat, an Tilp gewandt, um ihren erlittenen Schaden geltend zu machen und Schadensersatz zu beantragen. Aktuell laufen straf- und zivilrechtliche Verfahren gegen die ehemalige Geschäftsführung der Wirecard AG, allen voran gegen den ehemaligen CEO Dr. Markus Braun sowie zivilrechtliche Prozesse gegen die ehemalige Geschäftsführung, die Wirecard AG, EY und die BaFin.

In den zivilrechtlichen Prozessen gegen Dr. Markus Braun und EY ist für Anleger von Bedeutung, dass vom Bayerischen Obersten Landesgericht ein Musterkläger im Kapitalanlegermusterverfahren bestimmt wurde. Das bedeutet, geschädigte Anleger können sich dem Musterverfahren anschließen, um ihre Ansprüche geltend zu machen. Der Prozess gegen EY deutet sich als für Anleger positiv. Das Landgericht Stuttgart hatte in einem Urteil vom 5. Mai 2022 (Az. 5 HKO 15710/20) bestimmt, dass die von EY testierten Bilanzen der Wirecard AG nicht nur unrichtig, sondern nichtig seien. Das Gericht geht davon aus, dass die Treuhandguthaben in Höhe von 1,9 Mrd. Euro nie oder zumindest in keinem nennenswerten Umfang existierten. Danach hätte EY die Bilanzen nicht testieren dürfen und das Testat selbst wäre grob fahrlässig gewesen. Das Verfahren wegen Aufsichtspflichtverletzung der BaFin ist in der dritten Runde. Die ersten beiden Runden entschieden die Gerichte in Frankfurt zugunsten der BaFin. Die Gerichte sahen keine Pflichtverletzung auf Seiten der BaFin. Es könnte aber durchaus sein, dass das oberste deutsche Gericht oder der Europäische Gerichtshof die Urteile kassieren werden. Auch die deutsche Berufsaufsicht der Wirtschaftsprüfer, die sogenannte APAS, hat am 31. März 2023 ihre Entscheidung gefällt. Sie sieht bei der Prüfung der Abschlüsse der Wirecard AG und der Wirecard Bank AG in den Jahren 2016 bis 2018 erhebliche Berufspflichtverletzungen als erwiesen an und hat Sanktionen gegen EY selbst und fünf Wirtschaftsprüfer verhängt. Schließlich bleiben die strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Die Staatsanwaltschaft München I ermittelt nach wie vor gegen verantwortliche Wirtschaftsprüfer von EY wegen des Verdachts einer vorsätzlichen Straftat.

Was ist zu tun?

Das ist danach zu beurteilen, gegen wen der geschädigte Anleger vorgehen möchte.

Gegen die Wirecard AG wurde das Insolvenzverfahren eröffnet. Das heißt, der Insolvenzverwalter Dr. Michael Jaffé wird die verfügbare Insolvenzmasse, welche Tilp auf rund 1 Mrd. Euro schätzt, gequotelt an die Anleger auskehren. Deshalb empfehlen wir geschädigten Anlegern, sich im Insolvenzverfahren gegen die Wirecard AG anzumelden. Die Frist hierzu läuft am 31. Dezember 2023 ab. Bis spätestens zu diesem Datum sollte die Forderungsanmeldung beim Insolvenzverwalter eingegangen sein. Tilp berät Sie hierzu umfassend.

Gegen EY stehen geschädigten Anlegern zwei Möglichkeiten zur Verfügung: Sie können Klage gegen EY erheben oder ihre Schadensersatzansprüche zum Musterverfahren anmelden. Die Klage stellt den rechtlich „sichersten“ Weg dar. Nach Einreichung der Klage beim zuständigen Landgericht München I wird diese auf das KapMuG-Musterverfahren vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht ausgesetzt. Mit der Aussetzung wird der Kläger „Beigeladener“ des Musterverfahrens und kann unmittelbar von diesem profitieren. Die Einreichung einer Klage erweitert neben den Möglichkeiten eines Zivilprozesses die Kräftebündelung aller geschädigten Anleger zu einem deutlich verringerten Kostenrisiko. Zudem profitieren Kläger von der Bindungswirkung, d. h. die Feststellungen des Bayerischen Obersten Landesgericht sind für das Landgericht München I bindend. Abweichende Urteile sind nicht möglich. Die Einreichung einer Klage gegen EY ist jedoch nur noch bis zum 31. Dezember 2023 möglich. Tilp empfiehlt, mit Einreichung der Klage nicht bis Dezember zu warten, da es erfahrungsgemäß zu diesem Zeitpunkt zu einem erhöhten Aufkommen von Klagen kommt.

Ferner besteht gegen EY die Möglichkeit der Anmeldung der Schadensersatzansprüche zum Musterverfahren. Die Anmeldung stellt eine kostengünstige Alternative zur Einzelklage dar. Anders als die Klage entfaltet die Anmeldung jedoch keine Bindungswirkung, sondern hemmt die Verjährung der Ansprüche bis zum Ende des Musterverfahrens zuzüglich drei weitere Monate. Danach haben Anleger die Möglichkeit, im Wege einer Klage ihre Ansprüche gegen EY durchzusetzen. Die Frist für die Anmeldung läuft am 18. September 2023 ab. Eine spätere Anmeldung ist nicht möglich.

Eine Klage auf Schadensersatz gegen die BaFin ist risikobehaftet, aber nicht völlig abwegig.

Wie sieht die Welt morgen aus?

Es muss den Anlegern klar sein, dass die Verfahren einige Jahre dauern können. Das ist im deutschen Rechtssystem nichts Ungewöhnliches. Mit einer Befriedigung der Ansprüche ist also frühestens 2024 zu rechnen. Wenn Fragen oder Probleme bei geschädigten Anlegern bestehen, berät die auf Kapitalanlegermusterverfahren spezialisierte Kanzlei Tilp Sie umfassend.

Christian Palme, LL.M. Eur.
Rechtsanwalt
TILP Litigation Rechtsanwaltsgesellschaft mbH