Das Syndrom Primaballerina
29.05.2014
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Müssen sich bAV-Vermittler stärker um kleine und mittlere Unternehmen kümmern? Tatsache ist jedenfalls, dass es in diesem Marktbereich eine deutliche Unterversorgung der Beschäftigten gibt. Dabei finden sich gerade hier viele Arbeitnehmer mit geringeren Einkommen. Es müssen also neue Beratungswege beschritten werden. Beispiele dafür gibt es bereits.
Vor fast 200 Jahren sorgte die Gutehoffnungshütte für eine kleine Sensation. Als erstes deutsches Unternehmen führte der Montan- und Maschinenbauer aus dem Ruhrgebiet 1832 eine betriebliche Altersversorgung ein. Noch vor der Jahrhundertwende folgten dem Oberhausener Konzern unter anderem Krupp, Henschel, Siemens, BASF und die Farbwerke Hoechst. Vorrangiges Ziel war die Altersabsicherung von Arbeitern, also der wirklich Bedürftigen. Zur Erinnerung: Die gesetzliche Rentenversicherung existierte seinerzeit noch nicht, sie wurde erst 1889 eingeführt. Und heute? Bei Fachveranstaltungen geht es thematisch um CTA´s, internationale Bilanzen, steuerliche Aspekte der bAV beim Unternehmenskauf oder Gestaltungsfragen von Pensionszusagen bei M&A-Transaktionen. Die Menschen jedoch, die dringend etwas für ihre Altersabsicherung tun müssen, finden häufig nur noch an der Gesprächs-Peripherie statt. Stephan Schinnenburg, Vertriebsvorstand Makler und Mitglied des Vorstands der ERGO Beratung und Vertrieb AG, sagt, worauf es stattdessen ankäme: „Es ist eine zielgerichtete Vorteilsbetrachtung einer betrieblichen Altersversorgung in KMU notwendig. Hierzugehören unter anderem die Einzelberatung der Arbeitnehmer – mit Einverständnis des Arbeitgebers während der Arbeitszeit – und die Anerkennung der Eigenverantwortung des Arbeitsnehmers durch eine Beteiligung des Arbeitgebers."
Die zunehmende Erklärungsbedürftigkeit im Hinblick auf die Verbreitung der bAV hat zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft geführt. Hier die Großkonzerne mit teils mehr als zehn parallel eingerichteten Versorgungswerken und großzügigen Benefit-Angeboten, dort die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), bei denen sich allzu häufig weder die Personalverantwortlichen noch die Beschäftigten so recht für das Thema Betriebsrente interessieren. Wer für eine größere Schlagkraft der bAV eintritt, muss runter vom Sockel, da sind sich viele Beobachter einig. Im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales hatte TNS Infratest vor drei Jahren nach der Verbreitung der betrieblichen Altersversorgung bei KMU gefragt. Das Ergebnis muss erschrecken: Im Gesundheits- und Bildungswesen beispielsweise verfügen nur 11 % der Mitarbeiter in Betrieben mit einer Größe von 500 bis 999 Beschäftigten über eine Rentenanwartschaft. Im Bergbau, der Energie und Wasserwirtschaft sind es 15 % der Arbeiter und Angestellten, bezogen auf Firmen mit 10 bis 49 Arbeitskräften. Und in kleinen Handwerksbetrieben mit höchstens 10 Beschäftigten sind es 23 %.
Die Gothaer hat im vergangenen Jahr eine große KMU-Studie präsentiert, die fatale Missstände in KMU aufdeckt. Zwar ist die Zahl der Unternehmen, die nur mit Mühe qualifiziertes Personal gewinnen oder an sich binden können, seit 2010 von 46 % auf 50 % gestiegen; keine Probleme damit hatte 2010 noch jedes zweite Unternehmen, nur drei Jahre später war dieser Anteil auf 38 % eingebrochen. Die demografische Entwicklung bereitet demnach immer mehr kleinen und mittleren Betrieben Kummer. Gleichzeitig gab jedoch jeder nahezu zweite Personalverantwortliche (46 %) zu Protokoll, das Instrument der betrieblichen Altersversorgung zwar zu kennen, aber nicht von sich aus anzubieten. 28 % verbanden mit der bAV keine Vorteile oder hielten sie für zu umständlich, 27 % erschien sie schlichtweg als zu teuer. Doch dies ist völlig unsinnig, erklärt Dieter Wolf, Geschäftsführer des bAV-Beratungsunternehmens WERTKONTOR: „Bei einer intelligent gestalteten Entgeltumwandlung haben die Arbeitgeber sogar einen finanziellen Vorteil."
Rückendeckung erhielten unwillige oder zögerliche Arbeitgeber jedoch im Januar vom Bundesarbeitsgericht (Az.: 3 AZR 807/11 v. 21.01.2014), als es eine Verpflichtung der Arbeitgeber, Beschäftigten proaktiv eine Betriebsrente anzubieten, verneinte. Dies kann von all jenen, die sich für eine Stärkung der betrieblichen Altersversorgung einsetzen, nur als krachende Ohrfeige empfunden werden. Dennoch müssen die Ergebnisse der Gothaer-Studie als deutliches Warnsignal erkannt werden. Auch und vor allem von Vertriebsseite. Offenbar werden die Belange der Kleinbetriebe und des Mittelstandes nicht hinlänglich gewürdigt. Zahlreiche Umfragen haben in der Vergangenheit klipp und klar gezeigt, worauf es ihnen ankommt: Verständlichkeit der bAV-Konzepte, steuerliche und finanzielle Vorteile fürs eigene Unternehmen, eine möglichst geringe Haftung für die Erfüllung der Rentenzusagen und ein geringer eigener Verwaltungsaufwand. Es spricht Bände, dass der HDI im April mit dem für die Beratung in der Breite angelegten „Ablösungskompass" als nach eigenen Angaben „erster deutscher Versicherer" ein webbasiertes Analyse- und Beratungskonzept für die Optimierung von Pensionszusagen entwickelt hat. Welchen Vorteil dieses Modell gerade für kleine und mittlere Unternehmen hat, erklärt Fabian von Löbbecke, Vorstandschef der Talanx Pensionsmanagement AG und für das bAV-Geschäft der Unternehmenstochter HDI verantwortlich: „Für uns ist es wichtig, dass der Kunde die vorgeschlagene Lösung auch als Laie nachvollziehen kann." Erst dann könne dieser sachgerecht entscheiden. Woran es bei der Realisierung häufig hapert, beschreibt Rüdiger Bach, Vorstand der Condor Lebensversicherungs-AG: „Kleine Unternehmen fürchten die angebliche Komplexität und den Verwaltungsaufwand ohne die positiven Effekte der bAV zu kennen. Die Mitarbeiter hingegen trauen sich oftmals nicht, aktiv nachzufragen, da es häufig an entsprechender Aufklärung und Information fehlt. Wir können mit unseren Vertriebspartnern flächendeckend eine hohe Beratungsqualität und Transparenz für unsere Kunden bieten und dadurch einen höheren Durchdringungsgrad in den Unternehmen erzielen. Durch die richtigen Modelle einer bAV reduzieren wir auch die befürchtete Komplexität und den Verwaltungsaufwand für die Unternehmen." Natürlich müssen dabei auch Risikoaspekte, wie beispielsweise eine mögliche BU-Absicherung, berücksichtigt werden.
Dabei ist der Blick auf die breite Versorgung unerlässlich. Denn die Entwicklung der gesetzlichen Altersrenten führt die oft kolportierte Ansicht, Altersarmut sei vorrangig ein Problem der „Anderen", ad absurdum. Der viel zitierte Eckwerterentner, berechnet auf ein Durchschnittsentgelt von rund 2.625 Euro und 45 Beitragsjahre, kann über eine Eckwerterente von 1.270 Euro verfügen, von der jedoch noch gut 130 Euro für die Kranken- und Pflegeversicherung derart stringenten Arbeitsbiografie aber kaum gibt, sind die tatsächlich gezahlten Renten deutlich aussagekräftiger. Laut Rentenversicherungsbericht 2013 der Bundesregierung verfügten Frauen im vergangenen Jahr monatlich über exakt 741,37 Euro, Männer über 1.051,11 Euro, in den neuen Bundesländern sogar nur über 879,38 Euro.
Und die Aussichten sind düster. Im Auftrag des GDV hat das Handelsblatt Research Institut gemeinsam mit dem Meinungsforschungsinstitut Prognos kürzlich eine Prognose zur künftigen Entwicklung des gesetzlichen Rentensystems erstellt. Danach wird das Sicherungsniveau vor Steuern – Mütterrente und Rente mit 63 berücksichtigt – bis zum Jahr 2050 auf unter 42 % sinken. Doch nicht nur das. „Als Folge der Mütterrente und der abschlagsfreien Rente ab 63 dürfte der Rentenbeitrag bis 2030 auf 22,7 % von derzeit 18,9 % steigen, während das Sicherungsniveau um bis zu 0,5 Prozentpunkte niedriger ausfällt als ohne diese Maßnahmen", sagt Prognos-Chefökonom Dr. Michael Böhmer. Äußerst wacker mutet vor diesem Hintergrund ein Ergebnis aus der gerade von der Gothaer gemeinsam mit dem F.A.Z.-Institut vorgelegten Biometriestudie an. Demnach wollen 84 % der heute Erwerbstätigen ihren späteren Ruhestand mittels der gesetzlichen Altersrente finanzieren. Etwa jeder Zweite (46 %) fürchtet dabei auch nicht, dass die Leistungen zu gering sein könnten.
Und wie sieht es mit den Plänen der Betroffenen aus, mittels Teilnahme an der bAV stärker vorzusorgen? Die Markt- und Meinungsforscher von You-Gov sind der Frage in ihrem bAV-Report 2013 nachgegangen – und bestätigen mit ihren Ergebnissen alle Befürchtungen. Insgesamt weist der Trend zwar nach oben, so sagten 42 % der Beschäftigten, in den kommenden zwölf Monaten aktiv werden zu wollen. Zwei Jahre zuvor waren es nur 28 %. Doch fallen zwei Gruppen deutlich hinter das Gesamtergebnis zurück. Von den Mitarbeitern kleinerer Unternehmen sowie von den Beziehern kleiner Haushaltsnettoeinkommen mit maximal 1.500 Euro im Monat äußerten sich nur jeweils 34 % derart engagiert. Dabei sind gerade vor allem Letztere die Bedürftigen. Doch wie nimmt man hier die Kurve?
Immer lauter hörbar ertönt der Ruf nach einem Opting-Out. So meint auch Christoph Laarmann, Vorstand der Barmenia Lebensversicherung: „Um zu erreichen, dass deutlich mehr Mitarbeiter von der betrieblichen Altersversorgung profitieren, ist Opting-Out ein probates Mittel. Der Vorteil liegt darin, dass Mitarbeiter mit der Unterzeichnung ihres Arbeitsvertrages automatisch an der Entgeltumwandlung teilnehmen – sofern sie nicht innerhalb einer gewissen Frist widersprechen. Insofern führt dieser Ansatz dazu, dass sich Mitarbeiter aktiv mit der bAV auseinandersetzen müssen und mehr für ihre Altersvorsorge tun."
Dass alle Firmen dieses Modell gesetzlich verpflichtet einführen und umsetzen, könnten beispielsweise die Rentenversicherungsträger oder die Berufsgenossenschaften kontrollieren. Einen rigiden Weg ist England gegangen. Dort wurde 2012 ein Modell eingeführt, bei dem einerseits die Beschäftigten alle drei Jahre aus der bAV per Opt-Out aussteigen können, andererseits aber die Arbeitgeber zu einer Beteiligung an den Beiträgen verpflichtet sind. Zudem wurden feste und in zwei Staffeln steigende Prozentsätze für die Entgeltumwandlung und die Arbeitgeberbeteiligung vorgegeben. Aktuell liegen diese bei jeweils 1 %, 2017 und 2018 müssen die Betriebe einen Prozentpunkt obendrauf packen, während die Beschäftigten im Falle einer Teilnahme ab Herbst 2017 dann 3 % und ab Oktober 2018 sogar 5 % ihres Bruttolohns umwandeln müssen.
Ein Modell auch für Deutschland? „Es gibt viele Überlegungen, wie man die Verbreitung der bAV fördern kann. Ich bin für ein Opting-Out, wenn es bedeutet, dass die Umsetzung in den Betrieben durch Klarstellungen im Betriebsrentengesetz erleichtert und steuerlich gefördert wird. Ich glaube dagegen nicht, dass es gut wäre, wenn ein für alle Branchen einheitliches Opting-Out Modell vom Gesetzgeber vorgeschrieben wird. Denn damit würde der Gesetzgeber stark in die Tarifautonomie eingreifen und der Vielfalt der heute bestehenden Versorgungsregelungen nicht gerecht", erklärt Dr. Michael Hessling, Vorstand Allianz Leben und verantwortlich für das Firmenkundengeschäft, der solchen Zwang für unangebracht hält. Für ein einheitlich geregeltes obligatorisches Opting-Out fehle zudem die notwendige Akzeptanz. Bessere Rahmenbedingungen für betriebliche Modelle wären schon ein enormer Fortschritt. Aber auch eine bessere Kommunikation über die bAV-Vorteile für den Einzelnen. Dafür müssen Unternehmen bereit sein, neue Wege zu gehen. Wie eine kundennahe Beratung und Betreuung auch haptisch greifbar gestaltet werden kann, demonstriert beispielsweise die Burger-Kette McDonalds. Dort bekommt jeder Mitarbeiter eine Tüte mit allen wichtigen Infos in die Hand gedrückt. Üblicherweise tragen die Kunden darin ihre Cheeseburger und Pommes nach Hause. (hwt)