Ausblick 2025: Deutschlands Wirtschaft braucht Starthilfe
10.12.2024
Florence Pisani und Stefan Keller. Foto: @ Candriam
Sie deutsche Wirtschaft galt lange Zeit als Vorbild – doch jetzt schwächelt sie und fällt im europäischen Vergleich zurück. Kann Deutschland nach den Neuwahlen seinen Wettbewerbsvorteil zurückgewinnen? Florence Pisani, Global Head of Economic Research und Stefan Keller, Senior Multi-Asset Strategist bei Candriam, diskutieren in ihrem Ausblick, wie es nun in Deutschland politisch und wirtschaftlich weitergehen könnte und worauf Anleger achten sollten.
Zwischen 2005 und 2017, als in den meisten europäischen Volkswirtschaften die Bedeutung der Industrie abnahm und die Exportmarktanteile zurückgingen, zeichnete sich Deutschland durch eine leistungsstarke Industrie, hohe Marktanteile und einen soliden Haushalt aus. Während dieser Zeit ist das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 10 Prozent schneller gewachsen als das der anderen Länder der Eurozone. Deutschland und sein Sozialmodell der Mitbestimmung galten lange Zeit als Vorbild.
Es ist nicht alles Gold was glänzt
Bereits Mitte der 2000er Jahre kamen Fragen über die Zukunft des rheinischen Kapitalismus auf. Die Forschungsergebnisse von unter anderen F. Pesin und C. Strassel waren alarmierend: wirtschaftlicher Erfolg lediglich auf dem Papier, eine Wettbewerbsfähigkeit ohne Wachstum, Schüler, deren Leistungen unter den Durchschnitt der OECD-Länder gefallen sind sowie ein Ausbildungssystem, dem die Luft ausgeht.
20 Jahre später erscheint der Befund noch beunruhigender. Die deutsche Wirtschaft kommt nicht mehr voran und scheint im Vergleich zu ihren europäischen Partnern sogar zu schwächeln. Die meisten Länder der Eurozone haben heute wieder die Wachstumstrends erreicht, denen sie vor der Covid-Krise gefolgt waren. Das deutsche BIP liegt dagegen mehr als 6 Prozent darunter – das reale Wachstum stagniert seit 2019. Der Konsum der privaten Haushalte ist ins Stocken geraten, die Investitionen in Wohnimmobilien sind um 10 Prozent geschrumpft und obwohl die Investitionen in geistige Eigentumsrechte (R&D) um 10 Prozent stiegen, sanken die Gesamtinvestitionen der Unternehmen um etwa 5 Prozent. Der Export, die tragende Säule der deutschen Wirtschaft, ist 2017 nicht mehr gewachsen. Schlimmer noch: Wie zuvor schon Italien, Frankreich oder Spanien verliert auch Deutschland Exportmarktanteile.
Steigende Energiepreise, sinkende Nachfrage und Konkurrenz aus China
Deutschlands Wachstumsmotor ist die Industrie. Diese steht jedoch vor großen Herausforderungen. Der Automobilsektor macht fast 5 Prozent des BIP und 16 Prozent der Warenexporte aus. Bereits durch den Abgasskandal angeschlagen, kämpft die Branche nun mit einer schwachen Nachfrage in Europa. Denn für viele Verbraucher sind die Spitzenmodelle zu teuer und in den großen Metropolen aufgrund von Verkehrsbeschränkungen zunehmend unbeliebt. Der Sektor sieht sich auch mit einer sinkenden Nachfrage in China und der Konkurrenz durch chinesische Hersteller konfrontiert, die preislich deutlich wettbewerbsfähiger sind und den deutschen Herstellern jetzt auch auf heimischem Boden Marktanteile abknüpfen, insbesondere bei Elektrofahrzeugen. Die steigenden Energiepreise haben natürlich auch nicht geholfen: Seit Anfang 2022 ist die Industrieproduktion in energieintensiven Sektoren um fast 20 Prozent zurückgegangen. Besonders betroffen ist die Chemiebranche, die fast 4 Prozent des BIP erwirtschaftet und 17 Prozent der Exporte ausmacht.
Die Schuldenbremse verhindert notwendige Investitionen
Die Schlussfolgerungen eines aktuellen Berichts des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) bringen das Chaos auf den Punkt, in dem sich die deutsche Industrie befindet: Ohne Investitionen in Höhe von 1.400 Milliarden Euro bis 2030 – das ist fast doppelt so viel, wie der europäische Plan „Next Generation EU“ vorsieht – wird es der deutschen Industrie nicht gelingen, wieder wettbewerbsfähig zu werden. Dieser Weckruf ist umso erstaunlicher, weil darin vorgeschlagen wird, ein Drittel des Kapitals aus öffentlichen Mitteln bereitzustellen – traditionell steht der BDI für freien Handel und freien Wettbewerb. Wird dieser Ruf nach massiven Investitionen in den nächsten Jahren in der deutschen Politik Gehör finden? Werden die Herausforderungen, mit denen sich die Industrie konfrontiert sieht, Deutschland dazu bringen, die Schuldenbremse zu lösen und mehr im Inland zu investieren, um das Land wieder attraktiver zu machen? Bundeskanzler Olaf Scholz hat schließlich beschlossen, sich von seinem Finanzminister Christian Lindner zu trennen, der sich auf die Verteidigung der Schuldenbremse versteift hatte. Das könnte darauf hindeuten, dass zumindest ein Teil der politischen Führung in Deutschland wieder mehr investieren will.
Mögliche Sperrminorität – Das Zeitfenster für schnelle Reformen schließt sich
Sowohl die Bundesbank als auch der Sachverständigenrat – auch die Wirtschaftsweisen genannt – scheinen ebenfalls eine Reform zu befürworten, die die Flexibilität der Haushaltspolitik etwas erhöht, ohne die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung zu gefährden. Das Zeitfenster für die Umsetzung ist allerdings eng. Der politische Prozess in Deutschland sieht vorgezogene Neuwahlen vor, die für den 23. Februar 2025 geplant sind. Den jüngsten Umfragen zufolge hätten die FDP, die AFD und das BSW, die alle gegen jegliche Reform sind, eine Sperrminorität. Friedrich Merz, Vorsitzender der derzeitigen Oppositionspartei CDU, ist sich des Risikos bewusst, im neuen Bundestag keine qualifizierte Zweidrittelmehrheit zu erreichen. Er scheint daher zunehmend bereit, noch vor den Wahlen über eine Reform der Haushaltsbremse zu diskutieren. Dies würde der nächsten Regierung unbestreitbar etwas mehr Luft verschaffen – den aktuellen Umfragen zufolge könnte diese auch von der CDU angeführt werden. Zudem könnte so verhindert werden, dass eine unnötig restriktive Finanzpolitik die ohnehin schon schwächelnde Wirtschaft noch weiter belastet.
Es
bleibt abzuwarten, ob die Deutschen die nötige Weitsicht haben, Parteien
an die Macht zu bringen, die sich für Investitionen in die materielle
und soziale Infrastruktur einsetzen und das Deutschland von morgen
wieder wettbewerbsfähig machen können. Dies wäre nicht nur für
Deutschland, sondern auch für ganz Europa wünschenswert. (fw)