Ausblick 2. Halbjahr 2024: Zentralbanken bleiben vorsichtig

23.07.2024

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Die Wirtschaftstätigkeit in der Eurozone dürfte sich in der zweiten Hälfte des Jahres allmählich beschleunigen. In China dagegen stockt die Konjunktur, und auch geldpolitische Lockerungen dürften hier keine Abhilfe schaffen. Auch in den USA verlangsamt sich das Wirtschaftswachstum. Wie es der globalen Wirtschaft im zweiten Halbjahr 2024 ergeht, was sie für das Wirtschaftswachstum, die Inflation und die Geldpolitik erwarten und welche Risiken Investoren beachten sollten, erläutern Florence Pisani, Global Head of Economic Research, und Emile Gagna, Economist bei Candriam, in ihrem Ausblick.

Mit dem Beginn des Sommers 2024 setzt sich das Wirtschaftswachstum fort, das Tempo variiert jedoch in den einzelnen Ländern und Regionen. China steht nach wie vor unter Deflationsdruck, während die Konjunktur in der Eurozone nur langsam in Schwung kommt. In den USA hingegen liegt das Wachstum immer noch bei zwei Prozent, scheint sich aber etwas zu verlangsamen. Der Inflationsdruck hat in den vergangenen Monaten weiter nachgelassen und den Weg für eine vorsichtige Lockerung der Geldpolitik geebnet.

China: Wachstum gerät ins Stocken

Unter den großen Volkswirtschaften ist China die Einzige, in der die Wertschöpfungskosten sinken: Anfang 2024 belief sich das reale Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf etwas mehr als fünf Prozent gegenüber dem Vorjahr, das nominale Wachstum betrug jedoch nur knapp über vier Prozent. Damit lag es deutlich unter dem Durchschnitt von neun Prozent, den wir in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre beobachten konnten.

Der Grund: Das Land ist nicht mehr in der Lage, die enorme Menge an Ersparnissen zu absorbieren, die es jedes Jahr generiert. Dieser „Sparüberschuss“ wurde zumindest zeitweise durch ein umfangreiches Investitionsprogramm in die Infrastruktur ausgeglichen, das größtenteils von den lokalen Behörden finanziert wurde. Die sinkenden Einnahmen der Kommunen, die vor allem auf den Rückgang bei Grundstücksverkäufen zurückzuführen sind, schränken jetzt ihre Möglichkeiten ein, eine immer größere Zahl von Infrastrukturprojekten zu finanzieren. Peking versucht nun, überschüssige Ersparnisse in die Finanzierung von Zukunftsindustrien wie Solarpaneele, Batterien oder Elektrofahrzeuge zu leiten. Die Grenzen dieser Strategie dürften jedoch sehr schnell deutlich werden: Wie in der Photovoltaikindustrie wird China mangels ausreichender Binnennachfrage mit Überkapazitäten konfrontiert sein und sich nach Absatzmärkten im Ausland umsehen müssen. Dabei dürfte das Land allerdings auf heftigen Widerstand seitens seiner US-amerikanischen und europäischen Partner stoßen. Die Entscheidung der Europäischen Union (EU), die Steuern auf Elektrofahrzeuge zu erhöhen, falls keine Einigung erzielt wird, erinnert an die Erhöhung der Zölle, die die Vereinigten Staaten wenige Wochen zuvor beschlossen hatten. 

Vor dem Hintergrund der Handelsspannungen dürfte auch eine Lockerung der Geldpolitik keine Abhilfe schaffen. Die derzeitige Senkung der Hypothekenzinsen hat sich kaum auf die Kreditaufnahme der privaten Haushalte ausgewirkt: Obwohl die Hypothekenzinsen seit Mitte 2022 um fast 200 Basispunkte gesunken sind, zeigt sich bisher kein Effekt auf die Immobilienkredite. Das Wachstum dürfte enttäuschend bleiben – zumindest, solange die Haushalte weiter sparen und die Behörden weder das Wachstum zugunsten des Konsums verschieben noch Anstrengungen unternehmen, um das soziale Sicherheitsnetz zu stärken.

USA: Federal Reserve bleibt vorsichtig

In den Vereinigten Staaten setzte sich das Wachstum seit Jahresbeginn fort, getragen von einem anhaltend soliden Konsum. Dies trug zur Schaffung weiterer Arbeitsplätze bei: Monatlich und über drei Monate geglättet stieg die Zahl der neu geschaffenen Stellen von weniger als 200.000 im November 2023 auf fast 250.000 im Mai 2024 an. Aufgrund der steigenden Zahl von Arbeitsmigranten blieb der Arbeitsmarkt jedoch entspannt, und die Arbeitslosenquote steigt seit einigen Monaten allmählich an. 

Die finanziellen Bedingungen haben sich verschärft und sollten zu einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums beitragen. Die Zinssätze für Verbraucherkredite sind hoch, und die Zahlungsausfälle bei Kreditkarten haben in letzter Zeit deutlich zugenommen. Auch die nach wie vor hohen Hypothekenzinsen und der Anstieg der Hauspreise dürften die Wohnbauinvestitionen belasten. Gleichzeitig lässt die konjunkturstützende Wirkung der öffentlichen Ausgaben und des Inflation Reduction Act allmählich nach. Vor diesem Hintergrund wird erwartet, dass sich das Wachstum von durchschnittlich 2,5 Prozent im Jahr 2024 auf 1,7 Prozent im Jahr 2025 abschwächt.

Dennoch hat die Federal Reserve (Fed) allen Grund zur Vorsicht: Trotz der Verlangsamung im Mai liegt die Inflation im Dienstleistungssektor immer noch über der Zielmarke der Fed. Wenn sich der Arbeitsmarkt weiter entspannt, sollte die US-Notenbank die Zinsen in diesem Jahr immer noch zweimal senken können, beginnend im September. US-Präsident Joe Biden hat gerade eine Durchführungsverordnung unterzeichnet, die die Zahl der illegal in die USA einreisenden Erwachsenen um 85.000 pro Monat reduzieren würde, falls sie umgesetzt wird. Diese Migrationspolitik, sowie auch die Wirtschaftspolitik, die nach den Wahlen am 5. November verfolgt werden soll, könnte jedoch weitreichende Auswirkungen auf das Wachstum und die Inflation im Jahr 2025 haben und somit den geldpolitischen Kurs erheblich verändern.

Eurozone: Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Aufschwung?

Nach zwei Jahren hoher Inflation und stagnierender Wirtschaftstätigkeit gibt es in der Eurozone Anzeichen für eine Verbesserung der Wirtschaftslage. Das BIP ist im ersten Quartal mit einer Jahresrate von 1,3 Prozent gewachsen und die Daten des Einkaufsmanagerindex (PMI) deuten auf eine nachhaltige Erholung hin. Die steigende Kaufkraft der privaten Haushalte dürfte den Konsum und damit die Wirtschaftstätigkeit stützen: Wir erwarten, dass sich das Wachstum beschleunigt – von 0,6 Prozent im vergangenen Jahr auf 0,8 Prozent im Jahr 2024 und knapp über 1 Prozent im Jahr 2025.

Vor allem aber ist die Inflation im Mai gegenüber dem Vorjahr deutlich gesunken und liegt nun bei 2,6 Prozent. Angesichts dieser Verbesserung beschloss die Europäische Zentralbank (EZB) Anfang Juni, die Zinssätze zum ersten Mal seit 2019 zu senken. Denn: Nicht nur die sinkenden Energiepreise waren für den Rückgang der Inflation verantwortlich. Auch die Kerninflation, die Energie und Nahrungsmittel ausschließt, ließ deutlich nach. Dies gilt insbesondere für Güter, deren Preise aufgrund der pandemiebedingten Unterbrechung der Versorgungsketten stark angestiegen waren. Dieser Anstieg endete mit der Wiederherstellung der normalen Lieferketten. Die Inflation bei Dienstleistungspreisen geht nur langsam zurück. Zwar entspricht die Inflation vor allem in den Ländern mit niedrigem Arbeitseinsatz wieder fast den Erwartungen der Europäischen Zentralbank. Dies gilt jedoch nicht für den Dienstleistungssektor, wo die Arbeitskosten einen hohen Anteil an den Produktionskosten haben. 

Damit sich die Disinflation wie von der Notenbank erhofft fortsetzt, ist eine Verlangsamung des Lohnanstiegs notwendig – für sich gestellt reicht das allerdings nicht aus. Auch die Produktivitätsgewinne, die seit 2017 zum Stillstand gekommen sind, müssen wieder zunehmen. In den kommenden Quartalen dürfte sich die Beschleunigung der Wirtschaftstätigkeit positiv auswirken, zumal die Bereitschaft zum Jobwechsel bei den Arbeitskräften seit der Pandemie abgenommen hat. Ohne deutliche Produktivitätszuwächse könnten der Zentralbank jedoch Argumente für weitere Zinssenkungen fehlen. Wie die Federal Reserve hat auch die Europäische Zentralbank allen Grund zur Vorsicht.

Marktkommentar von Florence Pisani, Global Head of Economic Research, und Emile Gagna, Economist bei Candriam.