Aufwand, Chance oder Dammbruch?
17.08.2022
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Der 2. August 2022 dürfte bei vielen Maklern im Kalender rot markiert sein. Es handelt sich schließlich um den Starttermin der Abfragepflicht von Nachhaltigkeitspräferenzen im Beratungsprozess. Nach verwirrendem EU-Chaos blicken wir auf den aktuellen Stand der Gesetzgebung und was dies konkret für die Arbeit des Vermittlers bedeutet.
„Geht es nur mir so, oder wird die Welt da draußen immer verrückter?“, fragt der Joker im gleichnamigen Hollywood-Hit seine Therapeutin. Erschienen ist der Film 2019. Heute, im Jahre 2022, würden sich wohl die meisten den „Verrücktheitsgrad“ der vergangenen Dekade sehnlichst wünschen. So gesehen passt der Wahnsinn rund um die Einführung der Beratungspflicht bei Nachhaltigkeitspräferenzen perfekt in unsere Zeit. Zur Klarstellung: Die Versicherungs- und Finanzbranche hat das Thema Nachhaltigkeit längst mit offenen Armen angenommen. Und Beratung gemäß der Kundenpräferenzen? Sowieso! Wo also liegt das Problem? Eines liegt in einer verkehrten Reihenfolge. Die Abfragepflicht kommt vor Einführung der so genannten technischen Regulierungsstandards (RTS). Diese sollten eigentlich schon in Kraft getreten sein, wurden aber mehrmals verschoben. Das Fehlen dieser Standards führt zu Rechtsunsicherheit für den Vermittler. Verwirrung gab es außerdem darum, wen die Abfragepflicht überhaupt betrifft. Zuerst hieß es: Versicherungs- und Finanzanlagenvermittler. Nun gilt sie ab dem 2. August nur noch für Versicherungsvermittler, aber noch nicht für Inhaber des 34f. Doch auch letztere sind nach Auffassung der Branchenverbände AfW und VOTUM gut beraten, sich so früh wie möglich auf den Weg zu machen, die Nachhaltigkeitspräferenzen ihrer Kunden zu erfragen.
Alle Klarheiten beseitigt?
„Fakt ist: Weder der europäische Gesetzgeber noch die zuständigen Aufsichtsbehörden haben Klarheit geschaffen“, analysiert der geschäftsführende Vorstand von VOTUM Verband Unabhängiger Finanzdienstleistungsunternehmen in Europa e. V. Martin Klein. „Wir befinden uns deshalb in einer rechtlichen Übergangsphase und müssen mit dieser Unsicherheit entsprechend umgehen.“ Daher rät Klein den Vermittlern im Beratungsgespräch zu maximaler Transparenz: „Wenn nötig, sollten sie gegenüber dem Kunden klar äußern, dass mit der momentan vorherrschenden, unsicheren Datenlage keine verbindlichen Zusagen hinsichtlich der Nachhaltigkeitsmerkmale von Produkten gegeben werden können.“ Zudem empfiehlt Klein, die Haftungshinweise klar zu dokumentieren. Das soll Schutz bieten gegen Vorwürfe, falsche Erwartungen geweckt zu haben. „Im VOTUM Netzwerk haben wir hierfür bereits Mustertexte erarbeitet“, berichtet Klein. Außerdem gibt es für die Abfrage der Nachhaltigkeitspräferenzen verschiedene Angebote von Produktgebern, Softwarehäusern oder Brancheninitiativen, wie z. B. dem Arbeitskreis Beratungsprozesse oder des FNG. „Bei den beiden letztgenannten konnte ich mich jeweils auch aktiv für den AfW einbringen“, so Norman Wirth, geschäftsführender Vorstand des Bundesverbandes AfW. Insgesamt sieht Wirth einen nicht unerheblichen Mehraufwand auf die Makler zukommen. „Der Gesetzgeber verlangt, dass sich zu dem Thema Nachhaltigkeit alle zumindest so weit qualifizieren, dass sie in der Lage sind, den Kunden die verschiedensten Aspekte in Bezug auf die Kriterien der Nachhaltigkeitspräferenzen in klarer, knapper, verständlicher und nicht irreführender Sprache zu erklären“, erläutert er. „Es müssen also detaillierte Kenntnisse und Kompetenzen vorhanden sein – wie es die europäische Versicherungsaufsicht EIOPA ausdrückt.“ Darüber hinaus muss laut dem AfW-Vorstand auch sichergestellt sein, dass alle Mitarbeiter angemessen geschult sind und sich regelmäßig auf dem aktuellen Stand halten. Außerdem sieht Wirth eine gewisse Herausforderung darin, die Beratungsprozesse an die neuen Vorgaben anzupassen. „Das wird sicherlich eine Zeitlang dauern, insbesondere da wir hier regulatorisch noch in einem sehr dynamischen Prozess sind und noch lange nicht alle notwendigen Informationen seitens des Gesetzgebers als auch seitens der Produktgeber vorliegen“, prognostiziert Wirth. Aber er sieht für den Vermittler in der neuen Regulatorik auch eine Chance. „Eine Chance, weil es eine ständig steigende Nachfrage nach nachhaltigen Finanzprodukten gibt“, weiß der AfW-Vorstand. „Wer proaktiv das Thema Nachhaltigkeit einsetzt und hervorhebt, hat sicherlich einen Wettbewerbsvorteil, der sich auch im Umsatz bemerkbar machen dürfte.“
Der Dammbruch
Auch Oliver Pradetto, COO und Geschäftsführer von blau direkt, erkennt für Vermittler Geschäftspotenzial. Sie könnten das Nachhaltigkeitsgespräch für weitere Anknüpfungspunkte nutzen. Den Aufwand schätzt der Maklerpool-Chef allerdings geringer ein als Wirth: „Praktiker dürften die Nachhaltigkeitsthemen schnell mit zwei bis drei Fragen beim Kunden erledigen können“, glaubt Pradetto. Ein viel größeres Problem sieht er in der Vermischung von wirtschaftlichen Fragen mit politischen Gesinnungsfragen. Denn: „Schneller als erwartet mussten wir erleben, dass die gute Idee einer Lenkung der Wirtschaft auf Umweltziele hin politischen Zielen zum Opfer fällt und in eine Lobbyarbeit für fossile Brennstoffe und Atomkraft gedreht werden kann und wurde.“ Er fürchtet sich davor, dass sich dies schnell mit verschiedenen anderen politischen Vorlieben wiederholen könnte – „je nachdem, wer gerade regiert.“ Somit gipfelt Pradettos Bewertung der neuen Regulierung in einer scharfen Abrechnung: „Das Beratungsgebot zur politischen Idee der Nachhaltigkeitspräferenz ist ein beispielloser Dammbruch.“ (sh)