Rückendeckung? Das europäische Fragmentierungsproblem

01.07.2022

Bethany Payne, Portfoliomanagerin Janus Henderson Investors / Foto: © Janus Henderson

  • Die Europäische Zentralbank (EZB) versucht die Inflation einzudämmen. Doch könnte eine Straffung der Geldpolitik an diesem Punkt andere Risiken mit sich bringen?
  • Gegensätzliche Inflations- und Wachstumsdynamik in der EU ist Herausforderung für EZB
  • Oft wurde über einen „Backstop“ gesprochen, um die Anleihe-Spreads der Peripherieländer1 einzudämmen, doch welche Optionen hat die EZB?

Ein peripheres Problem?

Die strukturelle Komplexität der Eurozone ist in den letzten Wochen zweifellos wieder deutlich geworden. Höhere Zinserwartungen gingen Hand in Hand mit einer Ausweitung der Spreads zwischen den Renditen deutscher Staatsanleihen und den Renditen der Peripheriestaaten.

Auf der am 15. Juni einberufenen Dringlichkeitssitzung kündigte die EZB an, ihre Bemühungen zur Eindämmung der Spreads in den Peripherieländern zu verstärken, damit die Bank die Zinssätze bei Bedarf anheben kann. Dies hat gewisse Befürchtungen zerstreut, aber die Märkte sind gegenüber Versprechungen einer Zentralbank skeptisch, die regelmäßig durch die Beschränkungen ihres Mandats und der rechtlichen Struktur behindert wird. Die Herausforderung, sich ausschließlich auf die Inflation zu konzentrieren, und gleichzeitig für 19 divergierende Länder mit unterschiedlichen strukturellen Wachstumsraten geldpolitische Entscheidungen zu treffen, darf nicht unterschätzt werden.

Unterschiedliche Dynamiken, gleiche Lösung

Das einzigartige Rahmenwerk der EZB für Preisstabilität würde höhere Diskontsätze unabhängig vom Beschäftigungsniveau verlangen, was für einige Volkswirtschaften unangemessen wäre. Dies ist eine Glaubensprobe für die EU, und die EZB könnte schnell auf moralische Risiken stoßen. Anders als die Federal Reserve in den USA will die EZB die Nachfrage nicht drosseln, um die Inflation zu bekämpfen – auch ihre maßvolle finanzpolitische Reaktion auf die Pandemie rechtfertigt dies nicht. Strukturelle disinflationäre Kräfte wie der technologische Fortschritt und die Unterauslastung der Arbeitskräfte sind nach wie vor vorherrschend. Und darin liegt die Gefahr, dass man mit den geldpolitischen Maßnahmen über das Ziel hinausschießt.

Rückendeckung?

Die Dringlichkeitssitzung der EZB wurde nur eine Woche nach der planmäßigen Sitzung einberufen, auf der die EZB lediglich einen Hinweis auf mehrere künftige Zinserhöhungen gab. Der rasche Anstieg der Zinssätze, die Ausweitung der Spreads und die vermeintliche Schwäche Italiens dürften diese Entscheidung vorweggenommen haben. Das untermauert unsere Einschätzung, dass die EZB von nun an eher proaktiv als reaktiv agieren wird und die Ankündigung eines neuen Backstops kurz bevorsteht.

EZB-Ratsmitglied Schnabel deutete an, dass der Backstop eher zur Vermeidung von nicht-fundamentalen Fragmentierungsrisiken (wie z. B. der Stimmung) als zur Verhinderung von Spread-Ausweitungen aufgrund fundamentaler Schwächen eingesetzt werden wird. Die Schuldentragfähigkeit (ein fundamentaler Faktor) ist also nach wie vor wichtig, da eine fundamentale Spread-Ausweitung toleriert wird. Berichten zufolge hat EZB-Präsidentin Lagarde den Finanzministern des Euroraums mitgeteilt, dass der neue Backstop der EZB ausgelöst wird, sollten die Kreditkosten zu weit oder zu schnell steigen. Eine gewisse Ausweitung würde toleriert werden, aber genaue Zielvorgaben für die Zinssätze oder Zinsspannen wurden und werden wahrscheinlich auch nicht bekannt gegeben. Niemand im EZB-Rat wird sich dagegen aussprechen, dass der geldpolitische Transmissionsmechanismus – also der Prozess, durch den sich geldpolitische Entscheidungen auf die Wirtschaft im Allgemeinen und das Preisniveau im Besonderen auswirken – geschützt und eine Fragmentierung verhindert werden soll. Wann und wie ein solcher Backstop aktiviert werden könnte, dürfte jedoch sehr umstritten sein, und es sind erhebliche rechtliche und operative Herausforderungen zu überwinden. Die Hürde, etwas Konkretes auf den Weg zu bringen, könnte hoch sein.

Anders als in den Jahren 2010-2012, in denen die EZB ihre Bilanz angesichts der zunehmenden Fragmentierungsrisiken um 67 %2 ausweitete, besteht das Paradoxon jetzt darin, dass das QE-Programm ausläuft und der Nettoeffekt der Aufhebung entgegengesetzt wirkt. Der Backstop ist daher noch wichtiger und muss glaubwürdig sein, damit die Märkte Lagardes Entschlossenheit nicht über Gebühr auf die Probe stellen.

Weiter auf Seite 2