Viel Bewegung, wenig Richtung
17.07.2016
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An den Kapitalmärkten wird es auch im zweiten Halbjahr 2016 weiter unruhig bleiben. „Die ersten sechs Monate 2016 waren ein Vorgeschmack auf das, was uns im zweiten Halbjahr erwartet“, prognostiziert Jens Wilhelm, im Vorstand von Union Investment zuständig für Portfoliomanagement und Immobilien.
(fw/rm) Neben der Frage nach der Zukunft Europas sieht er die wirtschaftliche Entwicklung der USA und den künftigen Kurs der Notenbanken als wichtigste Einflussfaktoren. Im Ergebnis rechnet er mit einer Seitwärtsbewegung an den Märkten, allerdings unter starken Schwankungen. „Wir werden viel Bewegung, aber wenig Richtung an den Börsen erleben“, erwartet Wilhelm. Ein prägendes Ereignis der ersten Jahreshälfte 2016 war sicherlich die Entscheidung Großbritanniens zum Austritt aus der Europäischen Union (EU). Auch wenn die Details sowie die konkreten Folgen bislang noch ungeklärt sind, so ist sich Wilhelm sicher: „Der Brexit wird uns in Europa noch Jahre beschäftigen, und das nicht nur im Hinblick auf die Briten.“ Spätestens jetzt ist klar, dass das Einigungsprojekt in einer tiefen Krise steckt. Die größte Gefahr sieht er dabei in einer Sogwirkung auf andere Nationen wie Italien oder die Niederlande. Dort stehen entweder Wahlen an, oder die Hürden für nationale Referenden sind besonders niedrig. „Populisten jeglicher Couleur können auch in anderen europäischen Ländern jederzeit Debatten wie in Großbritannien entfachen. Darauf schauen die Kapitalmärkte mit Argusaugen“, sagt Wilhelm. Er rechnet mit einer sprunghaften Zunahme der Schwankungsintensität, sollte die Austrittsdiskussion weiter an Fahrt aufnehmen. „Die Investoren sind jetzt gewarnt. Steigt die Wahrscheinlichkeit für einen weiteren EU-Austritt, ist mit deutlichen Abverkäufen bei Risiko-Assets zu rechnen.“ Hinzu kommt, dass durch den Brexit mit negativen Effekten auf die Konjunktur nicht nur in Großbritannien zu rechnen ist. Union Investment geht davon aus, dass im Jahr 2016 das Bruttoinlandsprodukt (BIP) auf der Insel nur noch um 1,6 Prozent zulegt (nach 2,3 Prozent im Vorjahr). Im Jahr 2017 könnte der Zuwachs auf 1,0 Prozent zurückgehen. Jedoch gehen nur rund drei Prozent der gesamten Ausfuhren aus der Eurozone nach Großbritannien. Das spricht gegen eine massive Beeinträchtigung der Wirtschaft in der Währungsunion. „Ganz ohne Wachstumsverlangsamung wird der Brexit aber auch an Deutschland nicht vorbeigehen“, prognostiziert der Kapitalmarktstratege.
EZB: Im Zweifel mehr Lockerung
Vor diesem Hintergrund geht Wilhelm davon aus, dass die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Geldpolitik noch weiter lockern wird, sollte es die Lage in Europa erfordern. „Die EZB ist derzeit die einzige handlungsfähige Institution auf dem Kontinent. Im Zweifel wird sie daher das geldpolitische Gaspedal noch weiter durchtreten“, ist er überzeugt. Dabei wird die Notenbank seiner Ansicht nach neue Wege nicht scheuen. „Unter Draghi hat sich die EZB innovativ und furchtlos gezeigt. Sie wird auch ein weiteres Mal nicht vor unkonventionellen Maßnahmen zurückschrecken“, meint Wilhelm. Sollte es zu weiteren Schritten kommen, wären kurzfristig sogar positive Marktreaktionen möglich. Eine langfristige Lösung der Probleme in Europa kann die EZB seiner Einschätzung nach jedoch nicht liefern: „Über die Zukunft der Währungsunion wird nicht im Frankfurter EZB-Tower entschieden. Stattdessen ist die Politik gefragt.“
Mehr europäische Lösungen
Nach Meinung Wilhelms sollte dabei das Augenmerk auf realistischen Lösungsansätzen liegen: „Akademisch einwandfreie Konzepte helfen in der aktuellen Problemlage nicht weiter. Wir brauchen pragmatische Ansätze.“ Er plädiert daher für Reformen auf Politikfeldern, auf denen sich auf europäischer Ebene schnelle und greifbare Fortschritte erzielen lassen. Als positives Beispiel verweist er auf die europaweite Bankenaufsicht, die sich als Blaupause auf Bereiche wie eine Europäisierung der Körperschaftsteuer oder der Arbeitslosenversicherung übertragen lässt. „Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten ist der vielversprechendste Weg“, analysiert Wilhelm mit Blick auf eine mögliche Staffelung künftiger Integrationsschritte. „Auch stärkere Wachstumsimpulse vonseiten der Fiskalpolitik sind überlegenswert.“
Merkliche Wachstumsverlangsamung in den USA
Einen weiteren wesentlichen Einflussfaktor für die kommenden Monate sieht Wilhelm in der Konjunkturentwicklung in den USA: „Der US-Aufschwung geht ins achte Jahr. In diesem reifen Stadium ist eine weitere Tempoverringerung beim Wirtschaftswachstum abzusehen.“ Für 2016 prognostiziert Union Investment einen BIP-Zuwachs von 1,7 Prozent. Im Folgejahr dürfte der Wert jedoch auf 0,8 Prozent absinken. „Das ist noch keine Rezession, aber eine merkliche Verlangsamung. Da die USA nach wie vor wichtigster Wachstumsmotor der Weltwirtschaft sind, bremst das auch die Kapitalmärkte“, folgert er. Fortsetzung auf Seite 2