Trügerische Idylle

11.06.2015

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Das Pflegethema rückt immer stärker in den Fokus. Neben der Absicherung der Arbeitskraft steht es ganz vorne auf der Agenda, wenn über Biometrie diskutiert wird. So auch beim Roundtable der finanzwelt.

Vom Versagen der Politik über dringend erforderliche neue Beratungskonzepte bis hin zur Frage, ob die Berufsunfähigkeitsversicherung wirklich das A und O ist – Tabus gab es in der Runde keine. Dafür jedoch die Ankündigung, dass derzeit über eine völlig neuartige Pflegeversicherung nachgedacht wird.

**Die Experten am Roundtable:

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Björn Fischer, Leiter Maklerdirektion West Versicherungsgruppe die Bayerische

Joachim Geiberger, Geschäftsführer MORGEN & MORGEN GmbH

Uwe Schumacher, stellvertretender Vorstandsvorsitzender DOMCURA AG

finanzwelt: Meine Herren, noch vor einigen Jahren war die Marschrichtung klar vorgegeben. Der Vertrieb sah die Berufsunfähigkeitsversicherung als den einzig wahren Weg zur Absicherung der Arbeitskraft. Seitdem hat sich viel getan, auch im Hinblick auf die reale Versicherbarkeit der Menschen. Alternativen haben einen festen Platz an der Seite der BU eingenommen. Müssen die Vermittler sich völlig neu orientieren?

Fischer: Die BU ist nach unserer Erfahrung nach wie vor die erste Wahl der Vermittler. Dennoch ist ein grundsätzliches Umdenken erforderlich, denn es ist ja tatsächlich so, dass manche Menschen in der Praxis keinen BU-Versicherungsschutz erhalten, weil sie ihn beispielsweise nicht bezahlen können oder aus gesundheitlichen Gründen abgelehnt werden.

Geiberger: Ich denke, dass die Berufsunfähigkeitsversicherung nur als Königsweg empfunden wird, sie aber diesem Anspruch nicht standhalten kann. Denn eigentlich handelt es sich hierbei um ein eher unflexibles Produkt. Denken Sie nur daran, dass sie zum Beispiel keine Einmalzahlungen kennt. Das kann im Ernstfall ein wichtiger Faktor sein. Ein grundsätzliches Umdenken ist deshalb dringend angebracht, denn die Makler sind seit Jahrzehnten auf BU-Policen konditioniert. So ist eine Art „Friede-, Freude-, Eierkuchen-Markt" entstanden. Die Alternativen gab es auf der anderen Seite schon immer, aber möglicherweise haben wir jetzt einfach nur eine Sättigung am BU-Markt. Per se ist die BU ein Hochleistungsprodukt, das sich schon deshalb nicht für jeden Kunden anbietet. Diesen Gedanken setzt der Vertrieb bislang nur ungenügend um. Da müssen dringend die Beratungskonzepte geändert werden.

Schumacher: Die Vermittler wurden in ihrem Denken ja auch vom Verbraucherschutz unterstützt, der die Berufsunfähigkeitsversicherung, neben der Privathaftpflicht, zum Nonplusultra jeglicher Daseinsvorsorge erklärt hat.

finanzwelt: Ich stelle es mir aber auch nicht so einfach vor, individuell den tatsächlichen Bedarfsumfang einer Arbeitskraftabsicherung zu analysieren, wenn alle Produktfacetten berücksichtigt werden sollen.

Fischer: Für die Bedarfsermittlung existieren bestimmte Parameter: in erster Linie natürlich das Einkommen, aber auch etwaiger Kapitalbedarf z. B. infolge eines Hypothekendarlehens. Und es stehen technische Tools zur Verfügung. Die Bayerische hat eigens hierfür ihre „Diagnose-X" entwickelt, mit der neben der Bedarfsanalyse ein maßgeschneidertes Konzept aus BU-Schutz, Dread Disease und multifunktionaler Invaliditätsabsicherung erstellt werden kann. Dieses Tool stellen wir Maklern kostenlos zur Verfügung.

Geiberger: Das Problem bei der Bedarfsermittlung ist die individuelle Sichtweise. Wenn ein Vermittler ausschließlich die BU anbietet, hat er es einfacher. Kommen Alternativen hinzu, wird es schon schwerer. Bei MORGEN & MORGEN sind wir das Thema angegangen. In einem ersten Schritt werden wir die Alternativen vergleichbar machen, allerdings ohne daraus ein Bewertungsschema abzuleiten. Jetzt haben die Vermittler die Chance, das Interesse der Menschen an diesen Alternativen zu wecken. Zeitverzögert, also sobald der Markt dafür bereit ist, werden wir eine entsprechende Software zur Verfügung stellen.

Fischer: Der Informationsbedarf der Kunden ist ja schon erkennbar vielschichtiger geworden. Das ist eine zusätzliche Chance für die Makler.

finanzwelt: Welche Rolle kommt dabei der Dread Disease-Absicherung zu?

Fischer: Sie kann keinen Ersatz, aber durchaus eine wichtige Ergänzung zur BU-Absicherung darstellen, vor allem wenn der Bedarf an einer Einmalzahlung vorhanden ist. Ein ganz wichtiger Aspekt ist die Tatsache, dass eine schwere Erkrankung nicht zwangsläufig zu Berufsunfähigkeit führen muss. Und trotzdem gibt es dann eine finanzielle Leistung.

Schumacher: Es wird noch einiges an Aufklärung und Informationsarbeit vonnöten sein, Dread Disease aus ihrer Exotenrolle herauszuholen, die sie zumindest gefühlt einnimmt.

Geiberger: Ich sehe hier zurzeit einen Zwiespalt, in dem sich die Vermittler befinden. Einerseits sind die Qualitätsunterschiede zwischen den Anbietern schwer greifbar. Das fängt nicht zuletzt bei den Definitionen in den Versicherungsbedingungen an. Was zum Beispiel muss unter einer Lähmung verstanden werden? Um es etwas flapsig zu sagen, gibt es im Ernstfall fünf Mediziner und sechs Meinungen. Andererseits stehen die Makler unter dem Druck, ihre Kunden ausreichend beraten zu müssen.

Schumacher: Ich denke auch, dass hier das wirkliche Problem für die Zukunft der Dread Disease-Policen liegt.

Fischer: Immerhin ist das Bewusstsein der Vermittler für die Vorteile dieser Absicherung gestiegen. Nun muss sie noch im konzeptionell richtigen Rahmen angeboten werden. Und die Entscheidung für einen Anbieter darf nicht bloß auf die Anzahl der versicherten Krankheiten reduziert werden.

Geiberger: Entscheidend ist am Ende doch, dass die medizinisch konsequente Einschätzung einer Erkrankung auch in den Bedingungen Niederschlag findet. Wir sagen klipp und klar: Ein Herzinfarkt ist ein Herzinfarkt – ohne eine unsinnige Interpretationsmöglichkeit. Ich möchte aber noch einmal auf die Informationsflut zurückkommen, die Makler im Rahmen der Arbeitskraftsicherung zu bewältigen haben. Das ist draußen schon ein großes Thema. Und entsprechend laut ist der Wunsch der Makler nach technischer Unterstützung. Zurzeit müssen sie Stück für Stück vorgehen, also für jede der gewünschten Alternativen mit den Kunden jeweils eigene Gesundheitsfragen durchgehen.

finanzwelt: Was ist denn eigentlich aus der steuerlich geförderten BU-Versicherung mit Kontrahierungszwang geworden?

Fischer: Das ist schnell auf den Punkt gebracht: Meines Wissens wurde bei der Bayerischen nicht ein einziger solcher Vertrag abgeschlossen.

Geiberger: Wir haben seinerzeit ein Gutachten hierzu geschrieben. Ein Antiselektionsrisiko kann man schlicht und einfach nicht versichern. Es handelt sich bei dieser Idee um ein reines theoretisches Polit-Konstrukt.

Schumacher: Man kann durchaus den Eindruck gewinnen, dass Frau Nahles sich offenbar als Gönnerin positionieren wollte.

finanzwelt: Widmen wir uns einem zweiten Biometrieschwerpunkt, der Pflegebedürftigkeit. Warum ist denn die ergänzende Pflegeversicherung nach so vielen Jahren noch nicht richtig auf die Sprünge gekommen?

Schumacher: Das Thema an sich ist von ganz erheblicher Bedeutung. Schon 2050 müssen wir mit 4,5 Millionen Pflegebedürftigen rechnen. Dann wären fast doppelt so viele Menschen von Pflegebedürftigkeit betroffen wie heute. Aber das ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist das falsche Verständnis in der Bevölkerung hinsichtlich der sozialen Pflegeversicherung. Sie hat das trügerische Bewusstsein gefördert, man sei damit ausreichend abgesichert. Dabei stellt die gesetzliche Absicherung nur eine Teilkaskoversicherung dar. Und genau an diesem Punkt setzen wir in der Kommunikation mit unseren Vermittlern an, auch bei unseren „gut beraten" Schulungen: Wir informieren über die drängenden Fragen im Bereich Pflege und geben ihnen produktseitig die Bordmittel an die Hand, unsere gemeinsamen Kunden adäquat aufzuklären und entsprechend abzusichern. Fest steht: Wer für den Ernstfall wirklich eine umfassende Absicherung genießen möchte, kommt nicht umhin, private Vorsorge zu betreiben.

Geiberger: Ich glaube, das Problem ist vielschichtig. Gäbe es nur einen Grund, könnte man diesen abstellen. Viele Menschen haben beispielsweise nicht das eigene Pflegerisiko im Kopf, sondern das der Eltern. Also haben wir ein direktes Problem der Produktgestaltung. Auch das Thema einer wirklichen Hilfestellung bei Pflegebedürftigkeit, also Assistance, wird von der Branche weitgehend vernachlässigt. Genau hier liegen aber die Ängste der Menschen. Darauf wurde aber bislang keine passende bzw. für Kunden verständliche Antwort gefunden.

Schumacher: Damit könnte sich die gesamte Branche in der Tat besser positionieren.

Geiberger: Auch die Vermittler könnten die Versicherung stärker an die Hand nehmen. Was wäre zum Beispiel mit einem gemeinsamen Besuch in einer Pflegestätte – Maklerbetreuer und Makler? Dies würde sicher das Bewusstsein schärfen.

Schumacher: Hier darf auch nicht das bei etlichen Menschen „Nach mir die Sintflut"-Denken unterschätzt werden. Wer der Ansicht ist, im Falle einer Demenz oder einer umfangreichen Pflegebedürftigkeit interessierten ihn finanzielle Aspekte sowieso nicht mehr, überdenkt nicht, was er seinen Kindern antut. Nicht ohne Grund ist die Aussage „Kinder haften für ihre Eltern" bereits vielfach durch die Medien gegangen. In den Köpfen gänzlich angekommen und umgesetzt ist sie hingegen noch nicht. Und das, obwohl die durchschnittlichen monatlichen Gesamtkosten für eine vollstationäre Unterbringung in einem hiesigen Pflegeheim in der Pflegestufe III gut 3.200 Euro betragen. Nur etwa die Hälfte hiervon trägt die gesetzliche Pflegeversicherung.

Geiberger: In diesem Zusammenhang könnte ein Produkt nach Art der Schadenversicherung Luft nach oben haben – also die Möglichkeit, für den Pflegefall eine feste Summe zu vereinbaren. Mit den bisherigen Angeboten trifft die Branche vielleicht nicht den Kern des Problems.

finanzwelt: Herr Schumacher, damit liegt der Ball auf Ihrem Feld.

Schumacher: Ein solches Produkt gibt es bisher in der Tat nicht. Wenngleich Ihre Argumentation, Herr Geiberger, absolut zutrifft. Etwa im Hinblick auf die Gefährdung möglicher Erbschaften durch einen Pflegefall. Die DOMCURA hat eine entsprechende Diskussion mit zwei Risikoträgern auch schon eröffnet.

finanzwelt: Dass es erst jetzt dazu kommt, spricht nicht gerade von einer besonderen Innovationskraft der Versicherungsbranche.

Geiberger: Das würde ich so nicht unterschreiben. Vielmehr fehlen die für eine Kalkulation erforderlichen Erfahrungswerte. Man kann keine Vollkaskogeschichte daraus machen, folglich benötigt man Wartezeiten. Und hier mangelt es an statistisch auswertbaren Daten.

finanzwelt: Verschafft denn zumindest die geförderte Pflege den Vermittlern ein besseres Entree bei ihren Kunden?

Schumacher: Diese Frage möchte ich mit einem entschiedenen „Jein" beantworten. Sie gibt dem Vertrieb zumindest ein stärker definierbares Argument an die Hand. Zudem ist die Bevölkerung nicht zuletzt seit der Einführung der Riester-Rente förderungsaffin. Aber es gilt auch, auf die erheblichen Lücken im gesetzlichen System zu verweisen. Sehen Sie, die erst kürzlich erfolgten Verbesserungen in der sozialen Pflegeversicherung, etwa beim Thema Demenz, sind im Kern ja schon mal positiv zu bewerten. Aber die dafür bereitgestellten Mittel fallen im Vergleich zum tatsächlichen Bedarf doch eher bescheiden aus. Auch diese Botschaft gilt es, zu den Kunden zu transportieren.

finanzwelt: Die DOMCURA hat mit ihrer „Pflegewelt" ein umfangreiches Konzept zur Absicherung von Pflegebedürftigkeit im Programm. Hierbei steht das Tagegeld im Vordergrund. Warum eigentlich diese Variante und nicht die Pflegerente?

Schumacher: Weil Sie hierbei eine größere Flexibilität zu vergleichsweise wesentlich günstigeren Prämien vorfinden. Wobei wir aber auch auf besonders umfangreiche Leistungen Wert legen, zum Beispiel die Beitragsbefreiung bei eingetretener Pflegebedürftigkeit oder bei Arbeitslosigkeit, die weltweite Deckung oder die Leistungsdynamik. Mit diesen Highlights können wir auch bei unseren Kooperationspartnern punkten und ihnen gegenüber einmal mehr untermauern, dass wir nicht nur im Sachbereich, sondern auch im Pflegesegment Premium sind. Das ist ein kontinuierlicher Prozess, die Perspektiven sind einzigartig.

Geiberger: Ich möchte mich nochmal von inhaltlichen Details lösen und an etwas Grundsätzliches erinnern. Makler müssen die notwendige Sensibilität mitbringen und die Pflege zum zentralen Punkt in ihrem Beratungsprozess machen.

Schumacher: Das ist einer der größten Schlüssel überhaupt. Alleine mit einem guten Produkt kommen sie nicht weiter.

finanzwelt: Wie wird es denn in Sachen Pflege und Vertrieb weitergehen?

Schumacher: Die Politik hat bekanntlich die Absicht, die bestehenden Pflegestufen zu verändern und dabei „geistige" Aspekte stärker zu bewerten. Die größte Herausforderung wird aber kommen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge zur Pflegegeneration werden. Das wird nicht nur den Staat, sondern auch die privaten Versicherer belasten. Uns bleiben vielleicht noch sechs Jahre, hier ausreichend Vorsorge zu treffen.

Geiberger: Wir spüren beim Vertrieb eine stärkere Nachfrage am Point of Sale und nach elektronischer Quotierung. (hwt)

finanzwelt Special 03/2015 Biometrie – bAV – bKV