Terror als neues Risiko für die Finanzmärkte?

18.11.2015

In unserer Wirtschafts- und Finanzwelt laufen Ursache- und Wirkungszusammenhänge normalerweise so automatisiert ab wie die Steuerung unserer Heizungsanlagen. Ist beispielsweise die Konjunktur zu schwach bzw. Inflation zu gering, senken die Notenbanken die Zinsen bzw. erhöhen ihre Liquiditätsversorgung und umgekehrt.

Diese typischen Musterabläufe haben Leitplankenfunktion für meine Kapitalmarktanalyse. Ansonsten wäre eine vernünftige Prognose von DAX, Zinsen oder Währungen nicht mehr möglich. Ja, Analyse ist von Kopf bis Fuß auf das Otto-Normale, auf die alltäglichen, weißen Schwäne eingestellt.

Was macht man aber, wenn plötzlich ein unvorhergesehenes Ereignis zum Vorschein kommt, etwas, was man nicht regelmäßig auf dem Radarschirm hat, etwas Seltenes, ein schwarzer Schwan? Zu so etwas Unberechenbarem gehören die Terroranschläge von Paris.

Wie geht man mit dieser diffusen und abstrakten Gefahr um? Sollte ich in meiner Kapitalmarktanalyse Platz für diesen schwarzen Schwan machen? Immerhin scheint der Terrorismus leider zur Lebenswirklichkeit zu gehören und hatte bereits im September 2001 und ebenso nach den Anschlägen in London und Madrid für dramatische Verunsicherung und wirtschaftliche Kollateralschäden gesorgt. Nein, es macht keinen Sinn. Denn ob, wann und wie dieses düstere Federvieh erscheint, kann ich nicht prognostizieren. Berücksichtigte ich diese abstrakte Gefahr, würde Analysearbeit praktisch zum Raten der Lottozahlen. Überhaupt täte ich damit dem islamistischen Terror auch noch einen Gefallen: Er fände bei der Einschätzung von Konjunktur und Finanzmärkten eine Aufmerksamkeit, die diesen Psychopaten nicht zusteht. Daher werde ich Analyse wie bisher betreiben. Terroristen haben bei mir keinen Platz.

Die Finanzmärkte zeigen dem Terror die rote Karte

Ich sehe mit großer Genugtuung, dass der Terror nicht mehr die Schockstarre und Einschüchterung nach sich zieht wie dies noch nach 9/11 der Fall war. Die Finanzmärkte haben sich ein dickeres Fell zugelegt: Negative Reaktionen an den Finanzmärkten - auch im Nahen Osten - waren sehr begrenzt bzw. haben gar nicht stattgefunden. Der US-Dollar stieg zwar, wobei diese Aufwertung jedoch schon vorher zu beobachten war. Auch Gold als sichere Anlageklasse konnte nur kurzfristig zulegen. Und selbst der früher noch sehr krisensensible Ölpreis zeigt sich kaum beeindruckt. Ich gehe auch zukünftig nicht von nachhaltig steigenden Ölpreisen und in der Folge einer gehandicapten Weltwirtschaft aus. Die Ölmärkte sind dramatisch überversorgt: Saudi-Arabien fördert am Limit, um den neuen Konkurrenten Iran, der ab dem nächsten Jahr wieder nennenswert produzieren wird, von seinen Absatzmärkten fernzuhalten. Auch Russland versucht die Ölpreisschwäche durch eine rekordhohe Ölproduktion zu kompensieren. Insgesamt haben wir es mit einem historisch beispiellosen Puffer gegen jeden geopolitischen Schock inklusive Terror zu tun. Überhaupt, mit Fracking steht eine alternative Ölfördermöglichkeit zur Verfügung, die bei steigenden konventionellen Ölpreisen sofort zum Einsatz kommt. Die OPEC, die früher noch wie ein Tiger aufspringen konnte, ist heute längst als Bettvorleger gelandet. Selbst bei einem verstärkten militärischen Einsatz des Westens in Syrien rechne ich nicht mit großen Reaktionen auf den Ölpreis, denn die Ölförderländer sind dringend auf jeden Dollar Einnahmen aus dem Ölverkauf angewiesen.

Natürlich, suchte uns der Terrorismus zukünftig regelmäßig heim, würde dies einen Strukturbruch in meiner Kapitalmarktanalyse verursachen. Mit zunehmender Verunsicherung der Bevölkerung wären eine Konsum- und Investitionszurückhaltung zu erwarten. Einbußen im Wirtschaftswachstum, wenn nicht sogar Rezessionen, wären die logische Folge.

Ein gemeinsamer Feind eint mehr als tausend gemeinsame Freunde

Allerdings scheint sich dagegen endlich ein internationaler Schulterschluss abzuzeichnen, eine Anti-Terror-Koalition, die den Namen verdient. Ich finde es großartig, dass die USA und Russland sich wieder angenähert haben, um gemeinsam gegen den IS vorzugehen. Ich bin nicht naiv und will die Chancen auf ein Ende der Eiszeit zwischen dem Westen und Putin auch nicht zu optimistisch sehen, aber sie sind da. Ein verstärktes Ziehen an einem Strang im „Krieg“ gegen den Islamismus ist auch bei europäischen Politikern zu beobachten, die in letzter Zeit nicht durch Corpsgeist oder Solidarität, sondern durch gegenseitiges Hauen und Stechen aufgefallen sind. Setzt sich diese Harmonie jetzt in der Terrorabwehr fort, wäre dies ein großartiges Signal, dass Europa trotz aller Kritik doch noch funktioniert. Nicht zuletzt könnten damit ebenso Lösungen in der Flüchtlingskrise gefunden werden. So würden die Finanzmärkte immer mehr geopolitisch gestützt und immer weniger geopolitisch geschwächt.

Die Schwankungsbreite vor allem bei Aktien wird zwar zunehmen. Dies ist aber nicht den Terroranschlägen geschuldet, sondern den vielfältigen Problemen wie der Konjunkturschwäche in den Schwellenländern, der Zinswendediskussion in den USA und der überbordenden weltweiten Verschuldung. Hinzu kommt interessanterweise die zur konjunkturellen Stimulierung großzügigste Zins- und Liquiditätspolitik aller Zeiten, die jedoch für dramatische Anlagenotstände sorgt. Diese führen dazu, dass weltweit Renditepotenziale bei einzelnen Anlageklassen immer zügiger abgeweidet werden und danach die Anlagekarawane plötzlich weiterzieht. Immerhin jedoch wird die Geldpolitik auch weiterhin einen nachhaltigen Aktieneinbruch verhindern.

Insgesamt sind die Finanzmärkte trotz Terrorgefahren robust. Sie machen sich das lateinische Wappenmotto der Stadt Paris zu eigen, nämlich Fluctuat Net Mergitur: Sie (Paris) schwankt, geht aber nicht unter.

Damit ist die Jahresend-Rallye bei Aktien nicht beendet.

Autor: Robert Halver, Leiter Kapitalmarktanalyse der Baader Bank