Steht die Weltwirtschaft vor einer Stagflation?

16.05.2022

Serdar Kucukakin, Senior Sovereign Research Analyst bei Aegon Asset Management / Foto: © Aegon Asset

Arbeitslosigkeit würde die Haushalte schneller als Inflation in Bedrängnis bringen

Eine Definition von Stagflation ist schwer zu bestimmen. Jedoch kann eine Definition des Begriffs dazu beitragen, die Vorgehensweise zwischen den großen europäischen Zentralbanken aufzuzeigen. Unmittelbar nach Beginn des Krieges in der Ukraine Ende Februar sah es so aus, als ob die Inflation in den westlichen Ländern in den zweistelligen Bereich steigen könnte. Der Krieg in der Ukraine wirkte sich negativ auf die bereits angespannte globale Lieferkette aus und könnte die Preisentwicklung negativ beeinflussen. Zwei Monate später ist die Inflation in der Eurozone (7,5 %) und in den USA (8,5 %) noch nicht zweistellig geworden.

Angesichts der anhaltenden Einschränkungen in der Lieferkette, der nach wie vor bestehenden Covid-Probleme in China und der Verwerfungen bei den Rohstoffen aufgrund des Krieges in der Ukraine könnten diese Werte jedoch noch in greifbare Nähe rücken. Der Krieg in der Ukraine hat zu einem erheblichen Verlust an Dynamik in der europäischen Wirtschaft geführt, und die EZB möchte nicht, dass die Eurozone in eine Stagflation abgleitet.

Gleiche Entwicklung des Misery-Index – aber auch unterschiedlichen Gründen

Anders als bei einer Rezession gibt es letztlich keine einheitliche Definition von Stagflation. Der so genannte Misery Index wird häufig verwendet, um den Grad der Notlage in einer Volkswirtschaft anhand der Entwicklung von Arbeitslosigkeit und Inflation zu messen. Ein deutlicher Anstieg des Indexes kann als Indikator für Stagflation angesehen werden. In der Tat sind die aktuellen Werte des Misery-Index sowohl in der Eurozone als auch in den USA in etwa mit den Werten früherer Krisenzeiten vergleichbar (wobei es zugegebenermaßen ein wenig darauf ankommt, welchen Index man verwendet).

Hier enden die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Zeiträumen. Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen der aktuellen, durch eine Pandemie ausgelösten Krise und früheren Krisen. Während der globalen Finanzkrise war die Inflation weder in der Eurozone noch in den USA ein Thema, während die Arbeitslosigkeit ein großes Problem wurde. Europa hatte auch mit der Staatsschuldenkrise zu kämpfen. Im Jahr 2009 sank die Inflation in beiden Wirtschaftsblöcken sogar unter 0 %.

Gegenwärtig, im Jahr 2022, ist das Gegenteil der Fall. In beiden Regionen ist die Arbeitslosigkeit niedrig oder rückläufig, während die Inflation sehr stark angestiegen ist. Die gleiche Entwicklung des Misery-Index - aber aus ganz anderen wirtschaftlichen Gründen. 

Arbeitslosigkeit ein schwerwiegenderes Problem als Inflation

Die Inflation ist zwar ein großes Problem, aber die Arbeitslosigkeit bringt die Haushalte viel schneller in Bedrängnis als die Inflation selbst. Da die Arbeitslosigkeit in der Eurozone im Februar auf ein Rekordtief von 6,8 % gesunken ist, bedeutet dies, dass die Menschen, die einen Arbeitsplatz finden, einen Anstieg ihres Nominaleinkommens erleben, was im derzeitigen Umfeld positiv ist, da es die negativen Auswirkungen der Inflation etwas abschwächt.

In dieser Hinsicht hat der aktuelle Anstieg des Misery-Index eine ganz andere Bedeutung als die hohen Arbeitslosenzahlen während der letzten Krise. Wenn die aktuelle Entwicklung des Misery-Index anders ist als frühere Episoden - was einen direkten Vergleich und eine Interpretation erschwert -, könnte dies auch für andere Entwicklungen in der Wirtschaft gelten.

Dies ist insbesondere bei Bereichen wie dem Arbeitsmarkt möglich, der während der Pandemie aus den Fugen geriet. Die Dynamik war jedoch auf beiden Seiten des Atlantiks recht unterschiedlich. Diese Entwicklung hatte natürlich einen ganz besonderen Grund: Die Regierungen legten eine Wirtschaftspause ein, um das Virus zu bekämpfen.

Die Entwicklung des Arbeitsmarktes gilt als Spätindikator

Aber während der Pandemie war sie aufgrund der abrupten Unterbrechung anderen Entwicklungen voraus. Diese Änderung in der Abfolge der wirtschaftlichen Entwicklungen hat die zugrunde liegende wirtschaftliche Dynamik stark beeinflusst.

Letztendlich kann die Definition von Stagflation - die unter den gegenwärtigen Umständen wie ein sehr niedriges Wirtschaftswachstum in Kombination mit einer sehr hohen Inflation aussieht - dazu beitragen, aufzuzeigen, was von den Zentralbanken zu erwarten ist.

Es scheint, dass die meisten bereit sind, deutlich niedrigere Wirtschaftswachstumsraten zu akzeptieren, um die Inflation einzudämmen. Allerdings werden wir wohl nie erfahren, wie diese Zentralbanken reagiert hätten, wenn die Wirtschaftsaussichten von Anfang an düsterer gewesen wären.

Marktkommentar von Serdar Kucukakin, Senior Sovereign Research Analyst bei Aegon Asset Management