Reform geplant
21.06.2024
Peter Gundermann ist Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht - Foto: © Thomas Niedermueller
Am 08.04.2024 hat die Bundesregierung einen Entwurf für ein zweites Gesetz zur Reform des Kapitalanlegermusterverfahrensgesetz (KapMuG) veröffentlicht. Ziel dieses Entwurfs ist es, sowohl die Verfahrensstrukturen als auch den individualrechtlichen Schutz, den das KapMuG ermöglicht, dauerhaft zu etablieren und entsprechend weiterzuentwickeln. Inwieweit dieser Entwurf dazu geeignet ist, dieses Ziel zu erreichen, wird im Folgenden auszugsweise betrachtet. Am 15.05.2024 hat dazu eine öffentliche Expertenanhörung vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages stattgefunden, an der der Verfasser dieses Beitrags als Sachverständiger teilgenommen hat.
Das KapMuG wurde 2005 eingeführt und dient unter anderem der Schaffung eines effektiven kollektiven Rechtsverfolgungsinstruments, der Verbesserung des Individualrechtsschutzes und der Bündelung gleicher Ansprüche, um deren einheitlichen Klärung und eine daraus folgende Kostensenkung für den Einzelnen zu ermöglichen.
Verbesserungspotenzial des aktuell geltenden KapMuG
Insgesamt hat sich das KapMuG zwar bewährt. So wurden mehrere tausend Telekom-Kläger deshalb entschädigt, weil gerade der Solidarisierungs- und Bündelungseffekt im Musterverfahren dafür gesorgt hat, den maßgeblichen Prospektfehler herauszuarbeiten und verbindlich für alle Beteiligten feststellen zu lassen. Die oft sehr lange Dauer der Musterverfahren wurde jedoch zu Recht kritisiert. Der jetzige Regierungsentwurf verfolgt unter anderem das Ziel, die Verfahrenslänge zu kürzen und darüber hinaus auch den Individualrechtsschutz zu stärken.
Stärkung des Oberlandesgerichts
Der Reformentwurf sieht eine Neuverteilung der Rollen von Land- und Oberlandesgericht (OLG) vor. Hatte bisher das Landgericht das Initiativrecht durch Erlass des Vorlagebeschlusses, der für das OLG bindend war, soll nach der Reform das OLG selbst die sich aus den Ausgangsverfahren ergebenden Feststellungsziele formulieren. Auch soll das OLG prüfen, ob die in den Musterverfahrensanträgen enthaltenen Feststellungsziele sachdienlich sind und dabei unter anderem beachten, ob diese für eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung innerhalb einer angemessenen Verfahrensdauer geeignet sind. Mit dieser neuen Rollenverteilung verschlechtert sich die Rechtsposition der Anleger. Diese konnten bisher davon ausgehen, dass ein Vorlagebeschluss auch zwingend zu einem Musterverfahren führt und damit potenzielle Kostenrisiken kalkulieren. Nach dem Reformentwurf sind sie hingegen davon abhängig, dass auch das OLG die Eröffnung des Musterverfahrens als sachdienlich anerkennt. Wie dies ohne Kenntnis der Verfahrensakten der Ausgangsverfahren in der in § 9 Abs. 5 RegE vorgesehenen 4-Monatsfrist ab Bekanntmachung des Vorlagebeschlusses gehen soll, bleibt unklar. Der Prüfungsmaßstab für das Vorliegen der Sachdienlichkeit wird im Entwurf nicht definiert. Dies wiederum führt dazu, dass eine Ablehnung aufgrund mangelnder Sachdienlichkeit rechtlich schwer zu überprüfen ist. Damit steigt das Risiko einer unanfechtbaren Ablehnung durch das OLG, etwa zur Verhinderung von Arbeitsüberlastung unter Berufung auf eine angeblich mangelnde Sachdienlichkeit.
Aushöhlung der Verfahrensbeteiligungen
Gem. § 8 Abs. 1 KapMuG sind bisher alle von den Feststellungszielen abhängigen Verfahren auszusetzen. Die Reform sieht vor, diese Möglichkeit ersatzlos zu streichen, um dadurch eine Verringerung der Zahl
der Verfahrensbeteiligten zu erreichen. Es soll den Parteien außerdem ermöglicht werden, frei entscheiden zu können, ob sie am Musterverfahren teilnehmen oder ein Individualverfahren anstreben wollen. Hiermit entzieht der Reformgeber jedoch dem KapMuG seinen wesentlichen Charakter und unterläuft die diesem zugrundeliegenden Ziele, dabei verkennend, dass sich in der Praxis ohnehin nur wenige Beteiligte aktiv am Musterverfahren einbringen. Soweit die Aussetzung weiterer Verfahren gestrichen wird, wird das Ziel der einheitlichen Klärung von Tatsachen- und Rechtsfragen nicht mehr erreicht, da in jedem Individualverfahren eine andere Bewertung als die des Musterverfahrens getroffen werden könnte. Die einheitliche Rechtsprechung wird so möglicherweise einem „Flickenteppich“ weichen. Beweisaufnahmen mit stets den gleichen Zeugen müssten gegebenenfalls im jeweiligen Einzelverfahren tausendfach durchgeführt werden. Dies wäre extrem prozessunökonomisch.
Der Regierungsentwurf sieht in § 10 Abs.1 KapMuG-RegE zudem vor, dass die Verfahren derjenigen Kläger, die das Musterverfahren einleitende Anträge gestellt haben von Amts wegen ausgesetzt werden „soweit die Entscheidung des Rechtsstreits von den Feststellungszielen des Musterverfahrens abhängt“. In der Gesetzesbegründung zur ersten Reform des KapMuG lautete es hierzu, die Abhängigkeit von den bekanntgemachten Feststellungszielen sei lediglich abstrakt zu beurteilen und liege vor, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von den Feststellungszielen „mit hinreichender Wahrscheinlichkeit abhängen kann“ (vgl. BT-Drs. 17/8799, S. 20). Dies sollte maßgeblich der Bündelungswirkung und Effizienz dienen, da ansonsten viele Einzelverfahren drohen, die am Musterverfahren vorbeigeführt werden. Der BGH hingegen präferiert in seiner Entscheidung vom 30.04.2019 – XI ZB 15/18 einen konkreten Maßstab. Dies widerspricht dem gesetzgeberischen Ziel der Bündelungswirkung und ist zudem prozessunökonomisch, da es auf diese, notfalls sogar durch eine Beweisaufnahme zu klärenden Fragen nicht ankommt, wenn das Musterverfahren in der Sache negativ endet. Die Klagen würden dann ohnehin zurückgenommen. Aktuelle Beschlüsse des OLG München im Fall Wirecard deuten darauf hin, dass dem Bundesgerichtshof in der Frage des Aussetzungsmaßstabs nicht uneingeschränkt gefolgt wird. Endet das Musterverfahren positiv, können unklare Beleglagen bei einzelnen Klägern, z. B. bei tausenden von Transaktionen, immer noch individuell geklärt werden. Die Gefahr, verjährte oder offenkundig unzulässige Klagen in einem Musterverfahren durch zu schelle Aussetzungen „mitzuschleppen“ besteht nicht, da solche ersichtlich abweisungsreifen Klagen auch bei einem abstrakten Maßstab nicht auszusetzen wären.
Fehlende Regelungen zur Informationsgewinnung bzw. Beweiserleichterungen
Zur Schaffung eines effektiven KapMuG gehört die Neuregelung der Informationsgewinnung, die bislang im Entwurf nicht vorgesehen ist. Die Erfahrung zeigt, dass Gerichte von bereits bestehenden Möglichkeiten der Informationsgewinnung (insbesondere § 142 ZPO) nur sehr zurückhaltend oder gar nicht Gebrauch machen. Staatsanwaltschaften und Strafgerichte sind bei der Gewährung von Akteneinsicht ebenfalls sehr zurückhaltend. Geschädigten Anlegern bleibt daher häufig nur der Weg ins Ausland. Insbesondere die USA bieten mit dem dort bestehenden sog. Discovery-Verfahren nach Title 28 United States Code § 1782 eine Möglichkeit an Informationen und Unterlagen zu kommen, soweit diese überhaupt einen Bezug zu den USA aufweisen. Diese Möglichkeit ist allerdings sehr zeit- und kostenintensiv und setzt eine entsprechende Liquidität des Klägers voraus. Sind die finanziellen Mittel nicht vorhanden, bleiben den Klägern entsprechende Informationen verwehrt. Der Gesetzgeber sollte sich diesbezüglich daher an anderen, bereits bestehenden gesetzlichen Regelungen orientieren. Insoweit lohnt z. B. ein Blick in das Kartellschadensersatzrecht, in dem aufgrund der dort ebenfalls bestehenden Wissensasymmetrie und erheblichen Intransparenz ein Anspruch auf Herausgabe von Beweismitteln und Erteilung von Auskünften positiv geregelt ist (§ 33g GWB). Ein solcher Anspruch im kapitalmarktrechtlichen Musterverfahren würde nicht nur die Zahl materiell- rechtlich richtiger Entscheidungen erhöhen, sondern auch die Beurteilung von Chancen und Risiken in einem früheren Stadium des Prozesses verbessern und somit auch den Druck auf die Parteien erhöhen, sich zeitnäher zu verständigen.
Fazit
Ziel des Regierungsentwurfs ist es, das KapMuG dauerhaft in der Rechtsordnung zu verankern und als effektives Instrument zur Gewährung von Individualrechtsschutz weiterzuentwickeln. Entgegen seiner Zielsetzung ist der Regierungsentwurf jedoch in seiner aktuellen Fassung nicht geeignet, das KapMuG nachhaltig zu verbessern. Hierin waren sich alle Experten bei der Anhörung am 15.05.2024 einig. Es bleibt deshalb zu wünschen, dass noch Änderungen ihren Weg in das Gesetz finden werden, um das gesteckte Ziel zu erreichen. Dies würde das Musterverfahren und somit auch den Kapitalmarktstandort Deutschland insgesamt wesentlich attraktiver machen.
Fußnote des Autors: Zum Zeitpunkt der Beitragserstellung lag noch kein endgültig verabschiedeter Text des Gesetzes vor
Gastbeitrag von Peter Gundermann, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht bei TILP Rechtsanwaltsgesellschaft mbH