London hat das Nachsehen

19.01.2021

The City of London - Foto: © peresanz - stock.adobe.com

Mit dem Brexit-Votum 2016 begann eine Hängepartie, die bis Ende des vergangenen Jahres andauerte. Doch schon relativ frühzeitig war vielen Beobachtern klar, wer als Verlierer aus dieser Entscheidung herausgehen würde. In erster Linie wohl die britische Wirtschaft und im Besonderen die dortige Finanzszene. Abwanderungen auf den europäischen Kontinent stehen an. Dass dies keine Theorie sondern bittere Realität ist, lässt sich an aktuellen Daten festmachen. Ethenea liefert erste Einblicke.

Der Brexit-Vertrag ist erst seit Kurzem in Kraft, aber dennoch hat er bereits zu ersten Auswirkungen in der Finanzbranche geführt. „Jahrzehntelang galt London als das Zentrum für den grenzüberschreitenden Aktienhandel,“ sagt Dr. Volker Schmidt, Senior Portfolio Manager bei Ethenea Independent Investors. „Das scheint sich mit dem Brexit und dem Auslaufen der Übergangsphase erledigt zu haben.“ Die Aquis Exchange, die zweitgrößte Handelsplattform für europäische Aktien in Großbritannien, habe berichtet, dass 99,6 Prozent aller Transaktionen Anfang Januar über deren Zwillingsplattform in Paris abgewickelt worden seien. Dasselbe berichte die Cboe Global Markets, Inc. (früher Chicago Board Options Exchange), so der Experte. Laut Cboe-Informationen seien rund 90 Prozent des EU-Aktienhandels in Amsterdam getätigt worden, im Vorjahr war nahezu das gesamte Volumen in London abgewickelt worden. „Insgesamt sind allein am ersten Handelstag des neuen Jahres rund sechs Milliarden Euro von London nach Kontinentaleuropa verschoben worden,“ so Schmidt. „Dem britischen Fiskus entgehen dadurch nicht nur Steuereinnahmen, sondern es liegt auch nahe anzunehmen, dass Unternehmen zukünftig einen Börsengang in der EU bevorzugen werden, um von reibungslosen und aktiven Handelsbedingungen zu profitieren.“ Damit zeige sich drastisch, dass London bereits jetzt seinen Status als europäisches Finanzzentrum verloren hat. Schmidt schätzt, dass dieser Vorgang voraussichtlich auch nicht mehr umkehrbar sei.

Weitere Branchen betroffen

Keine Zölle auf Waren im beidseitigen Handel zwischen Großbritannien und der EU – das war einer der Hauptgründe für das Brexit Abkommen. Allerdings werden ein paar Wochen nach dem Brexit die Probleme immer deutlicher. „Zum einen klagen vor allem kleine Einzelhändler und Spediteure über die zunehmende Bürokratie und den anfallenden Papierkram,“ führt der Experte von Ethenea aus. „Es wird von Staus an den Außengrenzen, zurückgewiesenen LKWs und zusammenbrechenden Lieferketten berichtet. Viele Spediteure haben ihre Lieferungen vorerst ausgesetzt.“ Aber auch große Konzerne scheinen von den Unwägbarkeiten überrascht und nicht ausreichend vorbereitet zu sein. „Damit Waren sich für eine zollfreie Behandlung qualifizieren, muss nachgewiesen werden, dass sie ihren Ursprung in der EU oder im Vereinigten Königreich haben“, erklärt Schmidt. Bei einem Import durch Großbritannien und anschließenden Export in die EU (mit geringer oder gar keiner weiteren Verarbeitung) würde aber Zoll anfallen. Marks & Spencer lasse beispielsweise seine Süßigkeitenmarke „Percy Pig“ von Katjes in Deutschland produzieren, importiert diese nach Großbritannien und verteilt sie danach auch weiter nach Irland. Dabei würden von nun an Zollgebühren anfallen. „Unternehmen werden zukünftig also vor der Wahl stehen, entweder die Zölle zu zahlen oder ihre Lieferketten so umzustellen, dass Lagerhäuser direkt beliefert werden können, ohne britische Einrichtungen miteinbeziehen zu müssen. Letzteres wird vor allem kleine und mittelständische Unternehmen vor große Herausforderungen stellen,“ ist sich Schmidt sicher.

Anlegern Stimmrechte entzogen

Am 11. März 2019 kündigten die Fluggesellschaften Ryanair und Wizzair an, im Falle eines Brexits ihren britischen Aktionären die Stimmrechte zu entziehen. „Anfang dieses Jahres wurde nun ernst gemacht und dies tatsächlich umgesetzt,“ so Schmidt. Hintergrund sei die Regelung, wonach Flüge innerhalb der EU nur von Fluggesellschaften durchgeführt werden dürften, die mehrheitlich im Besitz von Aktionären aus der EU seien oder zumindest unter deren Einfluss stünden. Im schlimmsten Falle wären Flugverbote die Konsequenz. Zwar habe Ryanair seinen Sitz in Irland, ein Großteil der Aktionäre, hauptsächlich institutionelle Investoren und Fonds, stamme aber aus Großbritannien. Dasselbe gälte für Wizzair mit Sitz in Ungarn, so der Ethenea-Experte. „Dies sind bereits erste Auswirkungen und es werden noch viele folgen, manche davon völlig überraschend. Wir erachten es daher als sinnvoll , sich in allen Bereichen flexibel aufzustellen und zu diversifizieren, um für weitere Entwicklungen  gerüstet zu sein.“ (ah)