Liegen wir alle falsch?
04.09.2023
Rolf Ehlhardt - Foto: © I.C.M. Independent Capital Management Vermögensberatung Mannheim GmbH
Marktkommentar von Rolf Ehlhardt, Vermögensverwalter, I.C.M. Independent Capital Management Vermögensberatung Mannheim GmbH.
An der Börse versuchen Anleger, Berater und Analysten in die Zukunft zu blicken. Sie handeln Entscheidungen, die erst in der Zukunft getroffen werden. Die Annahmen bzgl. deren Ausgang beruhen oft auf Ereignisse aus der Vergangenheit. Manchmal sind sie aber gar nicht vergleichbar. Fed-Chef Powell wird von vielen mit Ex-Fed-Chef Volcker verglichen. Aber als Volcker damals die Zinsen erhöhte, lag die Verschuldung der Amis bei 800 Mrd. und nicht wie heute bei über 32 Billionen Dollar. Die Wirkung von höheren Zinsen ist demnach viermal so hoch. Was fast alle wissen, aber gerne unterdrücken ist die Tatsache: Sollte sich die Börse irren, bereinigt sie ihren Irrtum meist mit brachialer Gewalt. Da die Börsenteilnehmer oft Optimisten sind, irren sie sich überwiegend in Abwärtstrends.
Aktuell stehen die Entscheidungen der Notenbanken im Fokus. Die amerikanischen Fed und auch die EZB haben die Zinsen angehoben. Nun wollen beide abwarten, ob sie noch einmal die Zinsen (Mitte September) anheben oder auf diesem Level belassen. Etwas unterschiedlicher wird diskutiert, wann die Notenbanken die Zinsen wieder senken müssen, weil die Wirtschaften so schwach werden, so dass die hohe Inflation als das kleinere Übel gegenüber der Rezession angesehen wird. Zinssenkungen werden aber irgendwann kommen und von der Börse mit steigenden Kursen bejubelt werden. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Mitstreiter erkennen, dass die Wirtschaft sich nicht in dem Maße erholt, wie alle einkalkuliert hatten. Fazit: Wenn die Rallye läuft, mit Gewinnmitnahmen und „Stop loss“-Limiten arbeiten. Bis vor kurzem hatte ich auch diese Meinung (wie fast alle) vertreten.
Bis ich mir die Börsen in den letzten Zinssenkungsphasen angeschaut habe. Den Zeitraum von 2011 bis 2020 habe ich ausgenommen, da diese Zinssenkungen von massiver Geldmengenausweitung begleitet waren und die Massenliquidität die Zinsentwicklung überkompensiert hat. Aber die Jahre 2000 bis 2003 und 2007 bis 2009 sind gute Vergleichszeiten. Das Fazit brachte ein erschreckendes Ergebnis hervor.
Bei der vorletzten Zinserhöhung am 31. August 2000 auf 4,5 Prozent lag der DAX bei 7.216,45. Am 05. Oktober 2000, der letzten Erhöhung auf 4,75 Prozent noch bei 6.892,49. Danach wurden die EZB-Zinsen flott zurückgenommen. Wiederrum bei der vorletzten, aber diesmal Senkung am 6. März 2003 auf 2,5 Prozent (letzte 5. Juni 2003: zwei Prozent) stand der Index bei 2.437,51. Der DAX hatte 66,2 Prozent verloren, obwohl sich die Zinsen mehr als halbiert hatten.
Eine ähnliche, wenn auch nicht so gravierende Entwicklung legte der DAX in der nächsten Periode fallender Zinsen hin. Der Index stand bei der vorletzten Zinserhöhung auf vier Prozent am 6. Juni 2007 wieder bei 7.730,05. Der Zinsanstieg endete am 3. Juli 2008 auf 4,25 Prozent, da notierte er bereits bei 6.353,74. Die vorletzte Zinsrücknahme auf 1,25 Prozent (letzte am 7. Mai 2009 auf ein Prozent) beschloss man am 2. April 2009, als der DAX auf 4.381,92 gefallen war. Ein Rückgang von 43,3 Prozent, obwohl sich die Notenbankzinsen geviertelt hatten. Zum Vergleich ist Gold in der ersten Ära um etwa 30 Prozent, in der zweiten Periode um fast 40 Prozent gestiegen.
Sollte die mehrheitliche Meinung zutreffen, dass die Zinserhöhungen in diesem Jahr auslaufen und die Börse wie in den beiden aufgezeigten Zeiträumen reagieren, wäre die nächste Erhöhung das „Halali“ (oder war es schon am 15. Juni 2023/DAX 16.329), um die Liquidität durch Aktienverkäufe zu erhöhen und der späteste Zeitpunkt seine Edelmetallbestände auf den von mir empfohlenen Anteil von 20 Prozent aufzustocken. Vor allem dann, wenn es dank der Zinssteigerungsfantasie kurzfristig noch zu Kursrückgängen kommt. In beiden Vergleichszeiten wurden den schlechteren Wirtschaftsdaten mehr Beachtung geschenkt als den sinkenden Zinsen. Erst als die niederen Zinsen Wirkung (nach zwei bis drei Jahren) zeigten, fasste die Börse auf deutlich tieferem Niveau wieder Mut.
Gefahren für einen starken Rückgang der Wirtschaft sind zuhauf vorhanden.
1. Eine viel zu hoch bleibende Inflation (Fachkräftemangel, steigende Rohstoffpreise).
2. Die gestiegenen Zinsen führen zu hohen Insolvenzen (Zombie-Unternehmen).
3. Der Konsum geht kräftig zurück.
4. Politische Spannungen Ost-West mit Dedollarisierung.
5. Stark steigende Kreditausfälle bei Privat- und Gewerbe-Immobilien.
6. Steigende Zwangsverkäufe von Privat-Immobilien bei Prolongation der Baufinanzierung zu höheren Konditionen.
7. Die Banalisierung von Staatsschulden.
8. Weltweite Höchstverschuldung
9. Teure Energiewende
Wenn der eine oder andere dieser Krisenherde ausbricht, mit der Gefahr einer Kettenreaktion, kann die aktuelle Inflationsbekämpfung sogar zu einer Depressionsgefahr führen, zumal wenn dann auch noch die Geldmenge schrumpft. Schrille Warnsignale sendet bereits der Immobilienmarkt. Am Ende der Kette kommen eventuell die Banken in die Bredouille.
Ob die Politik diesen Problemen „gewachsen“ ist, darf bezweifelt werden. Das Vertrauen in die Politik sinkt bereits ins Uferlose und fördert so die AfD. Kein Wunder. Wir haben einen Kanzler mit besorgniserregenden Gedächtnislücken, einen Wirtschaftsminister mit irren Wirtschaftsthesen, aber Meister der Vetternwirtschaft, einen gleichnamigen Klimaminister, der mit Klima-Scheuklappen Entscheidungen herbeiführt, koste es oder den Bürger, was es wolle. Einen Finanzminister, der jetzt das tut, was er vor der Wahl massiv kritisiert hat und der dazu diese Bündelung von Schulden auch noch „Vermögensfonds“ nennt. Inzwischen gibt es 29 „Sondervermögen“ (das heißt Sonderschulden) in der Gesamtschuldenhöhe von fast einer Billion, also zusätzlich zu einer öffentlichen Verschuldung von 2,4 Billion. Eine Verteidigungsarmee, die nur für einen Tag Munition hat. Bildungspolitik und Gesundheitswesen sind desolat. Wahrheiten stehen bei den Politikern nicht hoch im Kurs. Selbst Misserfolge gelten noch als Nachweis für die Richtigkeit ihrer Politik.
Aber auch eine Präsidentin der Europäischen Kommission, die nur mit undurchsichtigen SMS-Nachrichten, falschen Waffenbestellungen und Chaos bei Masken- und Impfstoffen in der Pandemie „geglänzt“ hat. Eine Präsidentin der EZB, die 2016 wegen Geldverschwendung schuldig gesprochen und die von der Inflation 2022 „überrascht“ wurde. Wie sagte Prof. Matthias Scharlach einmal: „Immer dort, wo das Ego die Kompetenz überholt, versagen irgendwann die Bremsen“.
Bedenklich entwickelt sich derzeit der Junkmarkt für Anleihen. Allein im Dollar stehen rund 1,4 Billionen im Feuer, denn die Hälfte ist mit variablen Zinsen ausgestattet. Laut Goldman Sachs gab es in diesem Jahr schon mehr Ausfälle als in 2021 und 2022 zusammen. Die Deutsche Bank befürchtet sogar einen „Ausfallzyklus“. In Deutschland gab es im Sommer so viele Insolvenzen wie seit 7 Jahren nicht mehr. Und die Zinsen steigen weiter ...
Börsentechnisch muss noch vermerkt werden, dass viele der derzeitigen Börsenteilnehmer erst nach dem Jahr 2009 aktiv geworden sind. Auch die Bankberater kennen Abwärtstrends oft nur vom „Hörensagen“. Leider nimmt der Einfluss der spekulativen Börsianer (zum Beispiel Hedgefonds, Käufe auf Kredit) erschreckend zu, was zu irrationalen Kursschwankungen führen kann und wird.
Es kommt aber im Ernstfall nicht darauf an, ob man die Überschwemmung Tag genau vorhergesagt, sondern, ob man ein Boot gebaut hat. Unsere „Boote“ heißen Qualität und Edelmetalle. Eine Schuldenkrise droht. Trotzdem sind die Goldbestände der Anleger gesunken und die Stimmung für Gold ist miserabel. Gute Zeit zum Einstieg. Wie reagiert der Goldpreis, wenn die BRICS-Staaten eine neue, Gold gedeckte Verrechnungseinheit ausrufen? Mistrauen Sie auf jeden Fall Beschwichtigungen wie „dieses Mal wird alles anders“. Diese Aussage ist der teuerste Satz an der Börse.