Kapitalmärkte ohne KI sind möglich, aber sinnlos
04.03.2024
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Die jüngste Entwicklung an den Kapitalmärkten nahm ihren Anfang bereits im Aktienjahr 2023, als neben allgemeinen Zinssenkungshoffnungen vor allem die Euphorie um das Thema KI wesentliche Treiber für die Rekordjagd der Indexstände waren. Dabei lieferten für S&P500 und MSCI Welt die sogenannten „Glorreichen 7“ von Alphabet bis Tesla die entscheidenden Beiträge zur Wertentwicklung. Vor allem der Halbleiterhersteller Nvidia war mit +250 % ganz vorne. In den ersten 60 Kalendertagen des Jahres 2024 legte die Aktie weitere +60 % zu. Allein am Tag der Veröffentlichung der Quartalsergebnisse stieg der Börsenwert des Unternehmens um 277 Mrd. US-Dollar – ein Weltrekord.
„Vor allem in den US-Technologiegiganten wird gerade die beste aller Welten eingepreist“, erklärt Thomas Böckelmann, leitender Portfoliomanager der Dolphinvest Capital. Es werde mit einem Soft Landing der Wirtschaft bei sinkender Inflation und sinkenden Zinsen kalkuliert. Zudem rechne der Markt mit einer durch KI befeuerten steigenden Produktivität sowie einem steigenden Trendwachstum. Falls dann doch alles schlechter als erwartet laufe, hätten die Notenbanken zur Rettung ihre Munitionslager gefüllt. Das klinge sportlich bis sorglos, so der Experte. Da aber unzählige Titel der 2. und 3. Reihe sowie zahlreiche Branchen der Rallye bislang nur zuschauen konnten, dürfte sich das Investoreninteresse im Jahresverlauf in Richtung attraktiverer Bewertungen verlagern.
Börsenwert von NVidia entspricht fast gesamtem deutschen Aktienmarkt
„Wie bedeutsam die Glorreichen 7 für die statistischen Mittelwerte der US-Aktienbörsen wie US-Wirtschaft sind, zeigt sich an den jüngsten Quartalszahlen“, erklärt Böckelmann. Sechs der sieben Werte konnten den Quartalsgewinn im Jahresvergleich um 53,7 % steigern, alle anderen 494 Werte bzw. 99 % des US-Index S&P500 blickten mit -10,5 % auf sinkende Gewinne. Trotz durchgerechnet -1,4 % negativem Gewinnwachstum schwang sich der Index und somit auch der Weltaktienmarkt zu einem neuen Allzeithoch auf. „Bewertungen scheinen angesichts der Euphorie um Künstliche Intelligenz aktuell nur wenige zu interessieren“, so der Portfoliomanager.
Und weiter: „Der KI-Rausch hat die Aktienmärkte ergriffen und analog zum Goldrausch vor 170 Jahren sind es eben jene Unternehmen, die jetzt die Hacken und Schaufeln in Form von Halbleitern und Algorithmen liefern.“
Böckelmann fühlt sich an die Blase um 2000 erinnert: „Damals wurden allerdings oft wertlose Geschäftsmodelle gehyped, heute reden wir von disruptiven Monopolisten, die über liquide Mittel verfügen wie manche Staatshaushalte.“ Dennoch stimme es ihn nachdenklich, wenn nur noch wenige Prozentpunkte fehlen, bis das Unternehmen Nvidia dieselbe Kapitalisierung erreicht wie alle börsennotierten deutschen Unternehmen zusammen: „Wir sprechen hier immerhin von dem Börsenwert der Unternehmen der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt!“
Alte Regeln ausgesetzt
Das veränderte Zinsszenario scheine wenig relevant. „Während 2023 Zinssenkungserwartungen noch zu den kräftigsten Unterstützern der Aktienrallye zählten, sind deren Säulen mittlerweile kassiert worden“, so Böckelmann. Statt frühzeitigen Zinssenkungen im März und sieben bis zum Jahresende, erwarten Analysten jetzt eher 3-4 Zinssenkungen beginnend im Sommer. Unter normalen Umständen hätten die Aktienmärkte angesichts dieses signifikant veränderten Zinsszenario um einiges korrigieren müssen – auf Indexebene sind aber vor allem weitere Kursgewinne zu verzeichnen. Der Portfoliomanager weiter: „Unter der Oberfläche leiden aber dennoch einige Sektoren nicht nur unter den Zinsen, sondern auch unter den geopolitischen Risiken wie strukturellen Fehlentscheidungen der Politik. So reichen aktuell tatsächlich die Mittelflüsse in ETFs und momentumgetriebene Investoren aus, um mit ihrem Fokus auf wenige Titel die Aktienmärkte auf neue Allzeithochs zu ziehen.“
Die weitere Zinsentwicklung dürfte dennoch ein nicht zu unterschätzender Unsicherheitsfaktor bleiben. In den USA verweist Notenbank-Präsident Jerome Powell zwar immer wieder auf Erfolge an der Inflationsfront, warnt jedoch gleichzeitig vor den Gefahren im Falle zu früher Zinssenkungen. In Europa hingegen vermutet der Experte einen immer tiefer werdenden Graben zwischen jenen, die die US-Argumentation teilen und jenen, denen Zinssenkungen nicht früh genug sein können.
Zum 25. Geburtstag des Euros zeige sich hier einer der
Konstruktionsfehler der Währungsunion, da nicht ausgeschlossen werden könne,
das regionale Notenbankakteure weniger im Sinne der Preisstabilität, sondern
eher im Sinne der Schuldenpolitik ihrer Länder argumentieren. „Ohnehin
bekleckert sich Europas politische Elite im Euro-Jubiläumsjahr nicht mit Ruhm,
wenn man auf die geplanten Anpassungen bei der Anwendung der
Maastricht-Kriterien schaut. Weil faktisch niemand die Regeln einhält, werden
diese abgeschwächt“, kritisiert Böckelmann. (ml)