Falschbeantwortung von Gesundheitsfragen in der Pflegeversicherung
25.07.2023
Rechtsanwalt Jens Reichow. Foto: Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte
Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte aus Hamburg berichten in einer aktuellen Stellungnahme, dass Versicherer den Rücktritt vom Versicherungsvertrag erklären können, weil der Versicherte bei Abschluss der Pflegetagegeldversicherung die Gesundheitsfragen nicht wahrheitsgemäß beantwortet hat. Doch sind Entwicklungsstörungen des Kindes in den Gesundheitsfragen anzugeben? Damit hatte sich das LG Berlin in seiner Entscheidung zu befassen.
Die klagende Mutter schloss beim einem Krankenversicherer für ihr im Februar 2016 geborenes Kind eine private Pflegetagegeldversicherung ab. Das im Dezember 2016 ausgefüllte Antragsformular beinhaltete zahlreiche Gesundheitsfragen des Krankenversicherers bezüglich der versicherten Person:
„Besteht oder bestand bei Ihnen in den letzten 5 Jahren eine der folgenden Erkrankungen? Alkoholabhängigkeit, ALS (amyotrophe Lateralsklerose), Alzheimer, Bewegungskoordinationsstörungen (Ataxien), Bluter (Hämophilie), Chorea Huntington, Demenz, Diabetes, Hepatitis C, Herzinfarkt, HIV-Infektion, Himatrophie, Hirnblutung, Krebs, Multiple Sklerose (MS), Muskeldystrophie, Myasthenia gravis, Nierendialyse, Organtransplantation, Parkinson, Rheuma, Schizophrenie, Schlaganfall, Wachkoma“,
und
„Waren Sie in den letzten 12 Monaten in ambulanter/stationärer Behandlung oder Kontrolle wegen nachfolgender Erkrankungen oder nehmen Sie regelmäßig Medikamente wegen dieser Erkrankungen ein? Arterienverkalkung (Arteriosklerose), Arthritis, Arthrose, Bluthochdruck, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD), chronisch offene Wunde (Dekubitus), Epilepsie, Gelenkersatz (TEP), Gerinnungsstörung, Gicht, Herzfehler, Herzinsuffizienz, Herzschrittmacher, Hypercholesterinämie, Koronare Herzerkrankung (KHK), Krebs, Lähmungen, Leberzirrhose, Mukoviszidose (zystische Fibrose), Netzhautablösung, Nierenfunktionsstörung, Osteoporose, psychische Erkrankungen, Schlafapnoe-Syndrom, Schwindel, Vorhofflimmern“.
Diese Gesundheitsfragen verneinte die Mutter. Bereits vor Antragstellung im Oktober 2016 zeigten sich aber in den medizinischen Untersuchungen des Kindes einige Auffälligkeiten. Neben deutlichem Übergewicht, prämaturer Adrenarche und einer muskulären Hypotonie mit Schluckstörung wurde bereits eine Bobath-Therapie empfohlen und durchgeführt. Die von der behandelnden Ärztin ausgestellte Überweisung an das Sozialpädiatrische Zentrum wurde hingegen zunächst nicht wahrgenommen.
Im Januar 2017 wurde unter anderem ebenfalls Adipositas, prämature Adrenarche sowie motorische Entwicklungsstörungen diagnostiziert. Aufgrund dessen konnte noch nicht mit einer Beikosteinführung begonnen werden. Durch Ergotherapien konnten motorische Entwicklungsverzögerungen jedoch teilweise wieder ausgeglichen werden. Die daraufhin vorgenommene pädiatrische Untersuchung ergab zudem ein atopisches Ekzem, sonstige nicht näher bezeichnete Koordinationsstörung, sowie biomechanische Funktionsstörungen im Abdomen.
Im November 2017 stellte die Mutter einen Antrag auf Leistung bei dem Pflegetagegeldversicherer. Nach der Leistungsprüfung erklärte der Versicherer jedoch den Rücktritt vom Versicherungsvertrag. Dies begründete der Versicherer damit, dass die Mutter die Gesundheitsfragen bei Antragstellung wissentlich falsch beantwortet habe. Die Mutter habe bereits vor Antragstellung gewusst, dass ihre Tochter an einer Entwicklungsstörung und Bewegungskoordinationsstörung gelitten habe. Zudem handele es sich bei der Entwicklungsstörung gleichzeitig um eine psychische Erkrankung, welche ebenfalls nicht angegeben worden sei. Da die Gesundheitsfragen damit wissentlich falsch beantwortet worden seien, sei der Versicherer zum Rücktritt berechtigt und ein Anspruch auf Leistung bestehe nicht. Dagegen wandte sich die Mutter und erhob Klage vor dem LG Berlin.
Psychische Erkrankung im Sinne der Gesundheitsfragen
Der Versicherer war der Meinung, dass die Gesundheitsfrage nach ambulanten/stationären Behandlungen oder Kontrollen wegen psychischer Erkrankungen falsch beantwortet worden sei. Das LG Berlin sah dieses jedoch anders. Es könne zwar sein, dass internationale Klassifikationen wie der ICD-10-Katalog eine Entwicklungsstörung als psychische Erkrankungen einstufen würden. Für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer sei eine solche Einstufung jedoch nicht offensichtlich. Selbst wenn bereits im Zeitpunkt der Antragstellung Untersuchungen im Sozialpädiatrischen Zentrum erfolgt sein sollten, schließe der durchschnittliche Versicherungsnehmer bei einer diagnostizierten Entwicklungsstörung nicht auf eine psychische Erkrankung.
Ein Versicherungsnehmer fasse hierunter vielmehr nur solche Krankheitsformen, die erhebliche Abweichungen vom Erleben oder Verhalten seelisch gesunder Menschen zeigen und dabei das Denken, Fühlen und Handeln beeinträchtigen. Solche Krankheitsbilder stellen beispielsweise Schizophrenie, Psychosen oder Neurosen dar. Frühkindliche Entwicklungsstörungen und -verzögerungen gehören jedoch typischerweise nicht dazu. Insbesondere seien die die Psyche betreffenden Gesundheitsfragen weder hinsichtlich des Zeitraumes noch hinsichtlich des Inhaltes auf Kinder zugeschnitten. Dies bestärke die Wahrnehmung des durchschnittlichen Versicherungsnehmers dahingehend, dass frühkindliche Entwicklungsstörungen von den psychischen Erkrankungen im Sinne der Gesundheitsfragen nicht erfasst seien. Dafür spreche auch die Überweisung in die neuropädiatrische Betreuung und gerade nicht in die kinderpsychiatrische Betreuung. Der Mutter sei die Verneinung der Gesundheitsfragen die Psyche betreffend somit jedenfalls nicht vorzuwerfen.
Muskuläre Hypotonie als Bewegungskoordinationsstörung?
Ebenfalls sei die Frage nach dem Bestehen von Bewegungskoordinationsstörungen durch die Mutter nicht falsch beantwortet worden. Die Tochter habe zwar bereits vor Antragstellung an einer muskulären Hypotonie gelitten, durch welche eine verminderte Muskelgrundspannung und eine Schluckstörung ausgelöst werde, welche eine Beikostzuführung verhindere. Jedoch beziehen sich die Gesundheitsfragen nur auf festgestellte Erkrankungen. Beschwerdeanzeichen und Symptomatiken seien indes nicht abgefragt worden. Die erste offizielle Diagnose, welche den Schluss auf eine Koordinationsstörung zulasse, sei jedoch erst im Februar 2017 und somit nach der Antragstellung gestellt worden.
Dass die Eltern des Kindes bereits vorher vermuteten, dass ihre Tochter unter einer Entwicklungsverzögerung leide, begründe – entgegen der Annahme des Versicherers – auch keine spontane Anzeigeobliegenheit. Die im Zusammenhang mit der Bewegungskoordinationsstörung aufgeführten Krankheiten in den Gesundheitsfragen stellen allesamt Extrembeispiele für gravierende Krankheiten Erwachsener dar. Daraus folge, dass der durchschnittliche Versicherungsnehmer daraus nicht schließen müsse, dass auch verzögerte motorische Fähigkeiten im frühkindlichen Alter darunter zu fassen seien. Denn bei Babys und Kleinkindern sei eine unzureichende Entwicklung der motorischen Fähigkeiten bis zu einem gewissen Grad normal. Dies gelte insbesondere im Hinblick auf das starke Übergewicht der Tochter, welches die motorischen Abläufe zwangsläufig beeinträchtigt habe.
Die Verneinung der Gesundheitsfrage stelle somit keine Falschbeantwortung dar. Mangels Falschbeantwortung der Gesundheitsfragen bestehe kein Recht zum Rücktritt vom Versicherungsvertrag und die Leistungspflicht des Versicherers bestehe somit fort.
Fazit
Das Urteil zeigt, dass es für die Auslegung von Gesundheitsfragen auf die Sicht eines durchschnittlichen und um Verständnis bemühten Versicherungsnehmer ankommt. Aus Sicht der Versicherten ist das Urteil des Landgerichts Berlin daher zu begrüßen.
Ebenso zu begrüßen ist, dass das Landgericht Berlin die Anwendbarkeit der spontanen Anzeigepflicht begrenzt. Die Frage wie weit eine solche spontane Anzeigepflicht des Versicherten geht, ist nämlich durchaus umstritten. Ein weiterführender Beitrag zum Bereich der „spontanen Anzeigeobliegenheit“ ist nachstehend zu finden: „Die spontane Anzeigeobliegenheit – ein Mythos oder gelebte Pflicht?“
Daher muss weiterhin jeder Fall einzeln betrachtet werden. Deshalb empfiehlt es sich, jeden Versicherungsfall anwaltlich überprüfen zu lassen und frühzeitig eine Beratung durch einen im Versicherungsrecht tätigen Rechtsanwalt in Anspruch zu nehmen. Weitere Informationen und Rechtsprechungen haben wir für Sie unter „Versicherungsrecht“ und „Pflegetagegeldversicherung“ zusammengefasst. (fw)