Europa muss in die Verlängerung

27.06.2016

Dr. Martin Lück

Nun ist es also wirklich passiert. Die britischen Wähler haben sich für ein Ausscheiden ihres Landes aus der EU entschieden. Investoren haben in der Folge ihren über den Wochenverlauf eingepreisten Optimismus bezüglich eines Verbleibs drastisch korrigiert.

Entsprechend fielen die Notierungen britischer und europäischer Aktien, des britischen Pfunds sowie anderer risikoexponierter Anlagen wie etwa Anleihen schwächerer Bonität. Interessant ist aber, dass der DAX über den Wochenverlauf nur um 0,8 % im Minus lag – und das trotz des Absturzes am Freitag, der ja mit einem Abschlag von über 1000 Indexpunkten begonnen hatte und dann immer noch um 6,8 % im Verlustbereich endete. Aufschlussreich auch der Start in die neue Woche, der von positiven Vorgaben aus Asien (der Nikkei um über 2 % im Plus bei Markteröffnung in Europa) und einem eher zögerlichen Abbröckeln der europäischen Aktienpreise geprägt war, während das britische Pfund sich seinen am Freitag gesehenen Tiefständen (bei 1,33 gegenüber dem US-Dollar) wieder annäherte. Aus unserer Sicht deutet all dies darauf hin, dass die Märkte es bisher nicht vermocht haben, sich auf die unerwartete Entscheidung der britischen Wähler einen Reim zu machen. Offensichtich geht es den Briten selbst genauso. So manches an den Brexit-Reaktionen deutet darauf hin, dass viele Wähler das Referendum für Protest gegen Brüssel und London genutzt haben, ohne wirklich mit einem Votum für den EU-Austritt zu rechnen. Auf der anderen Seite sind offensichtlich viele Befürworter eines Verbleibs zu Hause geblieben, weil sie ohnehin mit einem klaren Entscheid für die EU-Mitgliedschaft gerechnet hatten. Und so kam, was kommen musste. Die Sprachlosigkeit vorher so wortgewaltiger Brexit-Befürworter wie Boris Johnson oder Nigel Farage zeigt, dass man selbst im Anti-EU-Camp nicht mit einem Sieg gerechnet hatte. Der Eindruck, der aus dem Vereinigten Königreich über den Ärmelkanal schwappt, ist nicht der von Siegeseuphorie. Eher von Katzenjammer. Entscheidend für Europa ist deshalb, wie sich die EU jetzt verhält. Beleidigte Kommentare aus EU-Kommission und -Parlament, verbunden mit der Forderung, jetzt müsse London schnell den Austrittsantrag stellen, lassen nichts Gutes hoffen. Viel besser wäre es, sich jetzt entspannt zurückzulehnen. Europa muss klar machen, dass der Ball jetzt im britischen Feld liegt, zudem letzteres, angesichts der Interessenlagen in Schottland und Nordirland, sehr schnell ein englisch-walisisches werden könnte. Die EU hat alle Karten in der Hand, denn schon sehr bald wird auch im britischen Hinterland die Erkenntnis ankommen, dass Johnson & Co. dabei sind, die regionale Mittelmacht Großbritannien in Rekordzeit zu marginalisieren, in Europa und global. Was bedeutet das für Anleger? Für die Finanzmärkte bedeutet dies in erster Linie, dass es für komplettes Einpreisen der ökonomischen Brexit-Konsequenzen zu früh ist. Aus unserer Sicht gibt es eine signifikante Chance dafür, dass die nächste britische Regierung den Austritt aus der EU doch noch vermeidet. Dieser „Exit from Brexit“ könnte etwa über ein weiteres Referendum erreicht werden. Schon am Wochenende wurde eine Petition dafür auf den Weg gebracht, die von Millionen Briten unterzeichnet wurde. Es ist wahrscheinlich, dass die Stimmung in den kommenden Tagen weiter kippt und der politische Druck für ein erneutes Referendum nach Neuwahlen wächst. Damit geht Europa in dieser Sache in die Verlängerung. Eine Entscheidung ist unbestimmt, genau wie der Wahlausgang in Spanien. Zwar siegte dort das konservative Lager von Premier Mariano Rajoy, aber der Zugewinn von 14 Parlamentssitzen gegenüber der Dezemberwahl reicht nicht für eine Regierungsbildung. Da auch die Sozialisten im Verbund mit der Protestpartei Podemos keine Mehrheit haben, stehen Spanien weitere Wochen zäher Koalitionsverhandlungen ins Haus. Seit nunmehr 6 Monaten hat das Land nun schon keine handlungsfähige Regierung mehr. Es könnten leicht noch ein paar dazukommen. In dieser Gemengelage großer Unsicherheit raten wir Anlegern, Risiken zunächst weiter zu meiden. Die im Kontext des britischen EU-Referendums sprunghaft gestiegene Volatilität europäischer Aktien (von etwa 20 auf über 35) dürfte in den kommenden Wochen hoch bleiben. Wir halten Gold bei knapp über 1300 Dollar die Feinunze noch für eine geeignete Sicherheitsvariante, gleiches gilt für amerikanische Staatsanleihen. Sollte die Unsicherheit in und um Großbritannien hoch bleiben und die Wahrscheinlichkeit eines EU-Austritts zunehmen, dürfte zudem die Währung bei diesen Positionierungen für Unterstützung sorgen.

Von: Dr. Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie für Deutschland, Österreich und Osteuropa bei BlackRock