Einordnung weltwirtschaftlicher und geostrategischer Zusammenhänge
07.02.2016
Markus Schuller
In 2015 entwickelten sich die wesentlichen Aktienmärkte leicht positiv (Europa), seitwärts (Nordamerika) oder stark negativ (Entwicklungsländer). Der aktuellen IWF Schätzung (Okt15) folgend, verlangsamte sich das weltwirtschaftliche Wachstum in 2015 auf 2.5%, und lag damit rund 1% unter dem Pre-2008 10-Jahres-Durchschnitt.
Rezessionrisiken lassen sich Anfang 2016 in ihrer Fragmentierung granularer zuordnen. Während sich die USA in einer volatilen und instabilen Aufschwungsphase befindet, gewinnt EU28 langsam an Wachstumsdynamik. Neben der realwirtschaftlichen Stärkung mittels Quantitative Easing durch die EZB, wirken die tragenden Säulen Großbritannien sowie Deutschland und eine sich erholenden Peripherie unterstützend. In Italien und Frankreich tragen die politischen Entscheidungen nun sichtbarer die Ausrichtung der jüngeren Politikergeneration – z.B. ablesbar am Macron/Gabriel Plan oder auch an Renzi´s Arbeitsmarkt- und Senatsreform.
Die Ironie der Geschichte will es, dass der IWF Deutschland seit 2009 eine Stimulierung der Inlandsnachfrage empfahl, dabei aber auf breite Ablehnung stieß – prioritär war bislang stets die Budgetkonsolidierung. Nun bewirken Facharbeitermangel und die wachsende Zahl an Asylsuchenden eben genau ein solches Inlands-Stimulus Paket. Deutschland verzeichnete in 2015 mit +2,5% den stärksten Reallohn-Zuwachs seit 1992, bei leichtem Budgetüberschuss.
EMERGING MARKETS
Rezessive Treiber sind derzeit in Emerging Markets zu finden. 38% des nominalen Welt-BIP werden in Emerging Markets erwirtschaftet. Neben jeweils länderspezifischen Faktoren lassen sich Parallelen in den Bereichen von exzessiven Fremdverschuldungsquoten auf Unternehmensebene, dem Kollaps von Export-induziertem Wachstum und kreditgetriebenem Konsumverhalten finden. Im East Asia Pacific Economic Update (Okt15) der Weltbank wird aufgezeigt, dass trotz der rezessiven Faktoren und der anhaltenden Konsolidierung Chinas die Konvergenzbewegung in Südostasien gut abgesichert ist. Unterstützt wird diese Conclusio von aktuellen Wirtschaftszahlen. So konnte sich z.B. Singapur im dritten Quartal wiederum stabilisieren und im vierten Quartal bereits 2% annualisiertes BIP-Wachstum aufweisen. Der asiatische Zwergstaat fungiert als „canary in the coal mine“ für seine umliegenden Handelspartner.
STRUKTURREFORMEN
Neben den geldpolitischen Maßnahmen empfiehlt die Weltbank weiterhin an Strukturreformen zu arbeiten. Unter diesem insbesondere seit 2008/9 strapazierten Zauberwort werden primär Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung, also Pro-Markt-Reformen, zusammenfasst. Dany Rodrik (Harvard Ökonom) zeigt nun deutlich auf, dass sich diese Art der Strukturreformen – wenn überhaupt dann - nur langfristig positiv auf das Potenzialwachstum einer Volkswirtschaft auswirken, bei anfänglich negativen Effekten, die auch deutlich ausfallen können. Seine Empfehlung liegt daher auf Reformbereichen, die lokale Stärken unterstreichen. Quasi passgenaue Medikation statt Breitbandantibiotikum.
China versucht diese Fokussierung derzeit in den neuen 5 Jahresplan 2016-2020 einzuarbeiten. Dementsprechend wurde am letzten Parteikongress im Oktober 2015 ein großes Reformpaket zur Konsolidierung der staatlich dominierten Unternehmen verabschiedet. Der weitere Verlauf der chinesischen Konjunkturabkühlung wird auch darüber entscheiden, wann Lateinamerika seine importierte Rezession verlassen kann. So wurde z.B. für Brasilien ein Rückgang des BIP um 3.6% in 2015 verzeichnet. Nachdem das Handelsvolumen zwischen China und Lateinamerika etwa im Jahr 2000 lediglich bei rund $12 Mrd. US-Dollar lag, stieg es bis 2013 massiv auf $289 Mrd. an. Lateinamerika profitierte unmittelbar vom China-induzierten Rohstoffboom. Um die derzeit negativen Auswirkungen abzufedern und die Beziehungen aufrecht zu erhalten, versprach China Anfang 2015 Investitionen im Ausmaß von rund $250 Mrd bis zum Jahr 2025 zu tätigen.
URSACHE VS SYMPTOM
Der WEF nannte in seinem Anfang Jänner erschienen Global Risks Report 2016 „large scale involuntary migration“ als das mit Abstand bedeutendste Risiko der kommenden 18 Monate weltweit. Signal or noise? Noise. Begründung: Erinnern wir uns an Griechenland. Dort wurde ein Exempel seitens der Eurozone statuiert, obwohl es selbst lediglich ein Symptom der Spielanordnung des Währungsraums darstellte. Die Arbeiten an der Ursache (Signal), sprich eine notwendige, demokratisch legitimierte Vertiefung in der Fiskal- und Sozialunion zumindest im Euroraum, gehen schleppend voran.
So ist auch der Umgang mit Asylsuchenden ein Symptom eines tieferliegenden Konflikts. Der politische Diskurs in Skandinavien, Deutschland und Österreich nähert sich nun volatil der bereits in früheren Publikationen beschriebenen Notwendigkeit einer Balance zwischen Durchsetzung rechtsstaatlicher Ordnung und Humanitas an. Ist also auf einem konsoliderenden, dadurch tragfähigeren Weg. Getragen von einer Regierung in Deutschland, die sinnvollerweise vorwiegend an der Minimierung der Fluchtursachen arbeitet.
Unser Umgang mit Asylsuchenden reflektiert vielmehr auf die Bruchstellen der europäischen Integrationsbewegung. Deutlich wird, wie heiß der Konflikt noch ist, ob die Antwort auf eine sich verändernde Globalisierungsdynamik nun eine offene oder geschlossene Gesellschaft sein soll.
In dem philosophisch über rund 5000 Jahre gespannten Resonanzraum menschlichen Tuns als dokumentierte Hochkultur zwischen der Dominanz animaler Instinkte und der Annahme absoluter Rationalität in der Anwendung des freien Willens lassen sich die animalen Instinkte bei einer diffusen Bedrohungslage einfacher in Schwingung versetzen als eine reflektierte Graustufen-Betrachtung.
Verstärkt wird diese Schwingung des Animalen durch eine Globalisierung in Zeiten des Global Order Deficits, in der die alten supranationalen Koordinierungsmechanismen zur Durchsetzung von Ordnung im abnehmenden Maße wirken und neue Strukturen noch fehlen. Dadurch ergibt sich ein Improvisieren im Durchsetzen der geostrategischen Eigeninteressen, das mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit an unintended consequences einhergeht, weil der Durchsetzungsprozess weniger dominiert werden kann. Sich daraus ergebende hässliche Symptome wie Bürgerkriege in Libyen oder Syrien verstärken die Schwingung des Animalen zusätzlich und ergeben einen sich selbst verstärkenden Prozess.
Bittere Ironie an der Geschichte: Während Gesellschaften mit dem Verarbeiten der animalen Schwingung beschäftigt sind, verfestigen sich in der Zwischenzeit politische, wie gesellschaftliche Verhaltensmuster, die implizit eine Entscheidung in der Frage nach offenen oder geschlossenen Gesellschaften in Richtung „geschlossen“ herbeiführen, sprich nationalistisch, reaktionär und populistisch. 3 Beispiele:
1) Wilful Ignorance, also der zunehmenden Ignoranz wissenschaftlicher Evidenz.
2) Inequality. Die drei bedeutenden Inequality Forscher Saez, Zucman und Piketty legten Anfang Jänner eine vertiefende Studie zur US Verteilungsbewegung seit WWII vor und bestätigten die alten, in Frage gestellten Aussagen einer sich dynamisch öffnenden Schere mit all den negativen Konsequenzen für gesellschaftliche Aufstiegsperspektiven und demokratische Partizipation.
3) Privacy/Data Security/Quartärsektor. Obwohl vermehrt auf den Quartärsektor (Digitalindustrie) am Arbeitsmarkt setzend, ist dieser nicht bereit dazu, weil von Oligopolen, Hackern und Geheimdiensten dominiert. Die Anschlagsserien in Europa führten sogar noch zu einer erweiterten Entscheidungsbefugnis der GCHQs, NSAs und BNDs dieser Welt.
CONCLUSIO
Die Weltgemeinschaft befindet sich in einer Phase, in der das geopolitische Global Order Deficit nicht weiter von Wirtschaftswachstums-Lokomotiven als Orientierungspunkte abgefedert werden kann (USA in den 90er Jahren / China von 2000-13). Sämtliche einfachen Symptombehandlungen wie Stimuluspakete oder Zentralbankinterventionen verlieren zunehmend ihre Markttragfähigkeit oder/und realwirtschaftliche Wirkung.
Nun werden die westlichen Gesellschaften gezwungen, sich zwischen populistischen Heilsversprechen und aggressiven Isolationsversuchen auf der einen Seite und einer strukturkausalen und somit systemischen Auseinandersetzung im Erhalt einer offenen Gesellschaft auf der anderen Seite zu entscheiden. Die durch die Globalisierung entstandene Interdependenz und durch den technologischen Fortschritt induzierte Dynamik steigern zusätzlich die Komplexität der Aufgabenstellung.
_Autoren: Mag. Markus Schuller, Managing Partner & Founder
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http://finanzwelt.de/wp-content/uploads/Der_globale_Kapitalstock_2005-2014.pdf