Die Inflation ist gravierender, als es scheint
12.04.2023
Colin Graham, Head of Multi-Asset Strategies bei Asset Manager Robeco / Foto: © Robeco
Die Notenbanken haben ihre Leitzinsen im vergangenen Jahr mehrmals angehoben, seitdem die russische Invasion in der Ukraine zu globalen Preisschüben geführt hat, vor allem bei Energie und Nahrungsmitteln. Der niederländische Assetmanager Robeco ist der Meinung, die Finanzmärkte schätzen die Lage falsch ein, wenn sie glauben, dass die Zinsen sinken werden, bevor es die Inflation tut. Colin Graham, Head of Multi-Asset Strategies, geht in seinem aktuellen Monatsausblick der Frage nach, ob höhere Staatsausgaben für zusätzlichen Druck auf Makroebene sorgen können und welche Auswirkungen die straffere Geldpolitik auf das nominale Wirtschaftswachstum haben wird.
Rotterdam, 12. April 2023 – Die Notenbanken weltweit haben mehrmals an der Zinsschraube gedreht. So ließ die Fed ihren Leitzins seit März 2022 (einen Monat nach Kriegsausbruch) neunmal ansteigen. Die Bandbreite für den Leitzins beträgt mittlerweile 4,75 bis 5,0 Prozent. Das ist der höchste Stand seit 2006 und ein deutlicher Anstieg gegenüber dem Nullzinsniveau, welches seit dem Beginn der Corona-Krise im Jahr 2020 vorherrschte.
Die Europäische Zentralbank (EZB) hob ihren Leitzins sechsmal nacheinander an – von null vor der Pandemie auf 3,5 Prozent Unterdessen hat die Bank of England (BoE) ihre Zinsen zehnmal erhöht, von fast null auf aktuell 4,25 Prozent. Dies geschah in allen Fällen zur Eindämmung der Inflation, die bisweilen im zweistelligen Prozentbereich lag und ein 40-Jahres-Hoch erreichte.
Die Mehrheit der Marktteilnehmer rechnet damit, dass die Leitzinsen gegen Ende dieses Jahres zu sinken beginnen, nicht zuletzt, um eine ebenfalls erwartete Rezession zu verhindern. „Aber machen Sie sich keine verfrühten Hoffnungen, jetzt wo die Inflation endlich gestiegen ist - mehr als ein Jahrzehnt, nachdem sie es den Erwartungen zufolge das erste Mal hätte tun sollen“, sagt Colin Graham, Head of Multi-Asset Strategies bei Robeco.
Die allgemeine Auffassung nach der globalen Finanzkrise war, dass die beispiellose Bereitstellung von Geld und Liquidität für das Finanzsystem zu einem massiven Inflationsschub führen würde, obwohl wir uns auf einem deflationären Pfad befanden.
Inflation in der Realwirtschaft
Bis vor kurzem führte dies in der Realwirtschaft noch nicht zu einer beschleunigten Teuerung. Tatsächlich nahm die Inflation bei Gütern und Dienstleistungen erst Fahrt auf, als es ab 2020 während der Corona-Pandemie zu Störungen der Lieferketten kam. Von daher konnte die Geldpolitik locker bleiben und die Zentralbankbilanzen konnten wesentlich längere Zeit aufgebläht bleiben.
Die Notenbanken machten sich deshalb keine Sorgen. Sie glaubten immer, über die notwendigen Instrumente zur Dämpfung der Inflation zu verfügen, indem sie den Preis von Geld über die Zinsen anhoben oder indem sie die Geldmenge durch quantitative Straffung verringerten.
Jetzt, da die Inflation sich beschleunigt hat, heben die Notenbanken ihre Leitzinsen rasch an. Allerdings sind sie zusätzlichem Druck ausgesetzt in Form von erhöhten Staatsausgaben wie beispielsweise im Rahmen des Inflation Reduction Act in den USA sowie Energiepreiszuschüssen. Das erschwert ihre Bemühungen erheblich.
Sind wir zurück in den 1970er Jahren?
Die derzeitige Inflationsspirale weist Parallelen zu den 1970er Jahren und den Fördereinschränkungen der OPEC- Staaten im Jahr 1973 auf, die einen starken Anstieg der Energiepreise mit sich brachten. Das führte letztlich zu erhöhten Lohnforderungen, Streiks, Rezessionen und steigenden Zinsen. Letztere erreichten ein zweistelliges Niveau, während die Notenbanken darum kämpften, den Preisauftrieb im verbleibenden Teil der Dekade zu verringern.
Die Implikationen sind problematisch, da der Weg hin zu niedriger Inflation und höherer Arbeitslosigkeit ohne eine harte Landung der Konjunktur erheblich schmaler geworden ist. Die angespannte Lage an den Arbeitsmärkten begünstigt erhöhte Lohnforderungen. Das ist der deutlichste Indikator dafür, dass sich in den Köpfen der Verbraucher höhere Inflationserwartungen verfestigt haben.
Sofern die Geldpolitik nicht gestrafft wird, führt eine Spirale aus höheren Preisen zu höheren Löhnen, was wiederum weitere Preisanstiege nach sich zieht. Die Lehrbücher aus den 1970er Jahren verraten, wie schädlich diese Spirale für die wirtschaftliche Stabilität sein kann. Aktuell ist die Geldpolitik noch relativ locker angesichts der umfassenden Verfügbarkeit von Krediten und negativen Realzinsen.
Selbst wenn wir uns in der Nähe des Höchststands der Leitzinsen befinden, stehen noch keine baldigen Zinssenkungen an, sofern es nicht zu einer Krise im Finanzsystem kommt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich unsere Einschätzung vom Marktkonsens. Dieser geht davon aus, dass die US-Notenbank ihre Leitzinsen bald senkt und die EZB gegen Ende des Jahres nachzieht.