Deutsche Automobilindustrie: Disruption als positives Momentum?
27.01.2025
Andreas Görler. Foto: Pruschke & Kalm GmbH
In der deutschen Automobilindustrie sind laut VDA rund 780.000 Personen beschäftigt. Die Zulieferindustrie verzeichnete rund 273.000 Mitarbeitende. Der Höchststand lag im Jahr 2018 bei ca. 833.000 bzw. 310.000 Beschäftigten. Unter den zehn größten Arbeitgebern finden sich dann auch mit VW und Daimler zwei Automobilunternehmen. BMW rangiert knapp hinter der „Top-Ten“-Liste. Insgesamt waren Anfang 2024 mehr als 43,3 Millionen Pkw privaten Haltern zuzuordnen.
Die drei wesentlichen Akteure der Branche, BMW, Mercedes und VW, verteilen sich auf die drei Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen. Dort leben insgesamt ca. 32 Millionen Bundesbürger. Das Land Niedersachsen ist außerdem noch mit einer 20,20-Prozent-Beteiligung größter Investor bei VW. Damit sind drei Landesregierungen, mit relativ hohem politischem Einfluss, tendenziell an einer stabilen Entwicklung der Automobilbranche interessiert. Nicht überraschend gehört die Interessenvertretung, VDA-Verband der Automobilindustrie e.V., ebenfalls zu den Top10-Adressen der deutschen Interessenvertretungen. Die größte Einzelgewerkschaft ist die IG Metall, die auch die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Automobilindustrie vertritt.
Mit dem ADAC gibt es in Deutschland dann noch eine Vertretung der Interessen aller Autofahrer oder zumindest der immerhin 19 Millionen Mitglieder. Daraus lässt sich ableiten, dass ein relativ hoher direkter oder indirekter Druck auf das jeweilige Verkehrs- und Wirtschaftsministerium oder auch die Regierung ausgeübt werden kann.
Der Verlust von Arbeitsplätzen oder ein Abschwung in einer „Schlüsseltechnologie“ sind dabei gängige Narrative.
Lobbyismus als „Bumerang“
Lobbyarbeit besteht oft darin, Transformationsprozesse, die eine Branche betreffen, aufzuhalten oder zu verlangsamen. Die betroffenen Unternehmen sollen Zeit gewinnen, um sich auf Veränderungen einzustellen. Außerdem werden regulatorische Vorgaben häufig aufgeweicht. In der Öffentlichkeit wird Aufmerksamkeit erreicht, wenn sich die Angst um gefährdete Arbeitsplätze verbreitet oder „der Wirtschaftsstandort Deutschland“ gefährdet ist. Den Unternehmen geht es meist aber um Margen, die möglichst lange erhalten bleiben sollen, und bereits abgeschriebene Industriesegmente, die möglichst lange Profit abwerfen müssen.
Diese Strategie verlangsamt aber auch Innovationen und könnte nun an ihre Grenzen kommen, da die Umsetzung der Elektromobilität stark ins Stocken kommt und sich das direkt auf die Konzernergebnisse auswirkt. Durch den hohen Anteil an ausländischen Erträgen, insbesondere in China, sind die Unternehmen gezwungen, „mehrgleisig“ zu fahren, da man das Thema in Deutschland zu lange vernachlässigt hat und hier noch verstärkt Verbrennungsmotoren verlangt bzw. aktiv angeboten werden. Außerdem haben deutsche Hersteller auch bei Verbrennern keine kleinen Fahrzeuge anzubieten.
Letzteres ist auch eine Folge der Margenorientierung, die höherpreisige, große Fahrzeuge bevorzugt, und des Firmenwagen-Leasings, das häufig dazu führt, viel zu große Fahrzeuge zu ordern. Diese Variante bewirkt auch, dass tendenziell mehr Fahrzeuge verkauft werden können, da meist alle drei Jahre ein Fahrzeug geordert wird, was dann eher ein Konjunkturprogramm für die Branche darstellt.
Hohe Preise und Reichweite als Barriere
Käufer deutscher Fahrzeuge sind eigentlich seit Jahrzehnten hohe Preise gewöhnt. Die Vertriebsstrukturen schaffen es auch meist, mehr zu verkaufen, als gebraucht wird. So sind immer mehr „fahrende Wohnzimmer“ mit unnötiger Motorleistung unterwegs. Die Art der Förderung, das Vehikel „Firmenwagen-Leasing“ gekoppelt mit dem Schüren von „Reichweitenängsten“, führt dann dazu, dass auch bei Elektrofahrzeugen größere Modelle geordert werden und die Kleinwagenproduktion zum Erliegen gekommen ist.
Laut einem Shell-Report liegt die in Deutschland zurückgelegte Fahrstrecke im Durchschnitt bei null bis 25 Kilometern pro Tag, gewünscht sind aber Reichweiten von 400 bis 500 Kilometern. Natürlich muss ein Fahrzeug mehr „Tankfüllung“ bieten als für ein paar Tage Normalfahrt. Die Aufregung, die hier erzeugt wurde, war aber in Nordeuropa, in Ländern wie Schweden, Norwegen oder Finnland, mit ähnlich großer Landfläche wie Deutschland, nie ein Thema.
Auch die bekannte negative Wirkung von starken Temperaturveränderungen auf den chemischen Prozess in einer Batterie (Reduktion der Reichweite) wurde in den genannten Ländern, wo es im Durchschnitt kälter ist als bei uns, kaum thematisiert.
Vorteil für Norwegen & Co.: Es gibt dort keine relevante Automobilindustrie und damit keinen Lobbyverband, der bei Verbrauchern oder der Regierung interveniert, so stehen eben auch Ladestationen dort, wo man sie braucht.
Alle deutschen Hersteller mit Problemen
Schon seit einiger Zeit haben sich die Ergebnisse deutlich eingetrübt. Bei Porsche müssen allein im Jahr 2024 1,5 Mrd. Euro eingespart werden. Hintergrund sind sinkende Absätze in China, gleichzeitige Anläufe mehrerer Modelle und Probleme mit Lieferanten.
Auch die Margenerwartungen haben sich weiter verringert. In China wurden 2024 lediglich 56.000 Fahrzeuge verkauft. Der ruinöse Preiskampf und die extrem offensive Vertriebsstrategie rächen sich nun.
Auch VW verliert in China immer mehr den Anschluss. Die Verkaufszahlen fielen dort unter drei Millionen Stück, wie zuletzt 2012, wobei auch das relevante Massengeschäft zurückging. Bei VW und Audi sind massive Überkapazitäten entstanden. Die Fabriken der beiden deutschen Unternehmen und der Joint-Venture-Partner sind nicht einmal zur Hälfte ausgelastet. BMW und Mercedes melden ebenfalls Absatzrückgänge in der Region.
Die Auslieferungen gingen um 13 bzw. sieben Prozent zurück. Dagegen konnte Tesla in China 2024 einen neuen Absatzrekord um 8,8 Prozent auf ca. 660.000 Fahrzeuge erzielen.
Handelsstreit verschärft das Problem
Der bereits eskalierte und sich vermutlich weiter verstärkende Handelskonflikt zwischen China und den USA erschwert die Situation zusätzlich. Beide Absatzmärkte sind von höchster Relevanz. Im Moment scheint es so, dass die chinesische Führung es eher toleriert, dass ihre Handelspartner auch mit den USA Handel betreiben, als es umgekehrt der Fall ist.
Allerdings hat die Administration in China 2024 eine Reform des Gesellschaftsrechts eingeführt, die auch die Rechte der Arbeitnehmer stärkt. Die Corporate GovernanceStruktur wurde geändert und die Haftungsvorschriften verschärft. Hat eine Gesellschaft mehr als 300 Mitarbeitende, ist nun eine Vorstandsperson als Mitarbeitendenvertretung von den Angestellten demokratisch zu wählen. Solche Gesetzesänderungen erzeugen, insbesondere bei ausländischen Unternehmen, stets erhöhten juristischen Beratungsaufwand, Stress und Kosten.
Managementfehler über längere Zeiträume
Die Schnelligkeit, mit der insbesondere asiatische Hersteller reagiert haben, wobei hier sogar branchenfremde Adressen wie Xiaomi eingestiegen sind, wurde von deutschen Managern unterschätzt. Auch die Strategie, auf margenträchtige, hochpreisige Modelle zu setzen, hat nur kurzfristig für Besserung gesorgt. Hier bieten asiatische Adressen mittlerweile ähnliche Fahrzeuge zu deutlich niedrigeren Preisen an. Von extremen Governance-Verfehlungen, wie dem Dieselskandal oder dem peinlichen Übernahmeversuch von Porsche aus dem Jahr 2009, der die Zuffenhausener fast ruinierte und letztlich VW die Übernahme ermöglichte, gar nicht zu reden.
Aktien unter Druck, Anleiherenditen akzeptabel
Permanente Managementfehler, Governance-Probleme, niedrigere Margen, größere Konkurrenz, drohender Protektionismus in den USA und die Reduktion des technischen Vorsprungs wirken sich auf die Erträge, das Vertrauen der Investoren und damit auf die Aktienkurse aus. Porsche war im letzten Jahr „DAX – Schlusslicht“ und beendete das Jahr mit einem Minus von 26,9 Prozent. Auf aktuellem Niveau ist die Bewertung zwar doppelt so hoch wie bei Mercedes, BMW und VW, aufgrund der höheren Profitabilität aber noch moderat. Aber auch die Aktien von Mercedes (minus elf Prozent), VW (minus 22 Prozent) und BMW (minus 24 Prozent) notieren, trotz Erholung, deutlich niedriger als Anfang 2024.
Derzeit halten nur wenige bekannte Fondsadressen deutsche Automobilaktien in den jeweiligen Hauptstrategien unter den Top-Positionen. Etwas stabiler sieht es bei den jeweiligen Anleihen aus, obwohl man eigentlich die gleichen Bewertungsmaßstäbe anlegen muss. Wenn man aber davon ausgeht, dass die Unternehmen weiterhin existieren werden, bieten sich hier Renditen im mittleren Laufzeitbereich von drei bis vier Prozent pro Jahr. Man könnte das Kurs- und Bewertungsniveau theoretisch zum Anlass nehmen, wieder sukzessive einzusteigen. Auch die anstehenden unvermeidlichen Kosten- und Personalreduktionen, die für die Mitarbeiter schmerzvoll sind, werden von Aktieninvestoren goutiert.
Grundsätzlich müssen sich die Managementleistungen unter schwierigen Bedingungen aber deutlich verbessern; ansonsten sind zumindest die Aktien dieser Unternehmen weiterhin mit Vorsicht zu genießen.
Marktkommentar von Andreas Görler, sen. Wealth Manager zert. Fachmann für nachhaltige Investments, -Wellinvest-Pruschke & Kalm GmbH, Berlin.