Der Aufbau von Ökosystemen erfordert Mut
16.05.2019
Tom Van den Brulle, Global Head of Innovation bei Munich Re / Foto: © MunichRe
Ökosysteme werden in der Versicherungsbranche der Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Doch welches sind die Erfolgsfaktoren, damit das geschieht? Tom Van den Brulle, Global Head of Innovation bei Munich Re sagt, letztlich müssten die Versicherungsunternehmen mehr Mut aufbringen.
finanzwelt: Tom, welches ist Ihre Rolle als Global Head of Innovation der Munich Re, insbesondere mit Blick auf die sogenannten Ökosysteme?
Tom Van den Brulle: “Ich kümmere mich um das Innovationsportfolio der Munich Re. Zu meinen Aufgaben gehört unter anderem die Entwicklung unserer eigenen Plattformen, wie zum Beispiel Parachute und Realytix. Munich Re entwickelt und investiert aber auch in langfristige Partnerschaften mit Schlüsselpartnern, zum Beispiel über unsere Einheit Digital Partners (DP). Darüber hinaus sind wir aber auch Kooperationspartner auf anderen Plattformen – denken Sie an Slice Labs Inc., das On-Demand Homeshare-Versicherungen für Airbnb und andere Marktplätze für teilgewerblich genutzte private Wohnimmobilien anbietet. Wir sind Mitglied verschiedener Ökosysteme, zum Beispiel B3i, Plug and Play und Rise, das Innovationsprogramm der Barclays Bank. Außerdem genieße ich das Privileg, Vorsitzender des Vorstands des InsurTech Hub Munich zu sein.
finanzwelt: Worum geht es bei Parachute und Realytix?
Tom Van den Brulle: “Parachute umfasst die komplette Wertschöpfungskette von Versicherungen. Digital Porte Inc. ist sein neuer digitaler Versicherungsagent, der in Kanada lizenziert ist und dort Lebens- und Krankenversicherungen anbietet. Sein Geschäftsmodell ermöglicht Partnern mit und ohne Versicherungslizenz über Parachute – die digitale Plattform von DPI – Versicherungsprodukte zu verkaufen. Mit Realytix eröffnen wir neue Chancen in der Entwicklung von Standardprodukten der Nicht-Lebens-Versicherung. Die Zeit bis zur Marktreife ist hier das entscheidende Schlagwort: Um ein neues Produkt auf den Markt zu bringen und seine Backend-Integration zu gewährleisten, brauchen Erstversicherer im Allgemeinen bis zu zwei Jahren. Realytix reduziert diesen Zeitrahmen auf wenige Wochen.”
finanzwelt: Asiatische Anbieter wie Rakuten und Ping An schöpfen ein breites Spektrum an neuen Geschäftschancen aus, weil sie über die traditionellen Grenzen der Versicherungsindustrie hinausdenken. “Ökosysteme” bilden den Kern ihrer Strategie.
Tom Van den Brulle: Im Zuge der Digitalisierung in den letzten fünf bis zehn Jahren haben wir gelernt, dass wir nicht mehr alles selber machen können. Ein Ökosystem bedeutet, alle Partner zusammenzubringen, die einen Beitrag zur Diskussion und Lösung eines bestimmten Problems leisten können. Wir müssen uns anders organisieren, um von anderen zu lernen und die Prozesse zu integrieren. Diese Partner können Unternehmen, aber auch Regierungsbehörden, Hochschulen und andere Einrichtungen sein. Die Quintessenz besteht darin, dass wir organisationelle Lösungen finden müssen, mit denen wir alle zusammenbringen können. Das ist ein Ökosystem.”
finanzwelt: Dann kommt es im Wesentlichen darauf an, über die traditionellen Branchengrenzen hinauszublicken, um die wahren Kundenprobleme zu lösen, nämlich die, die noch vor dem eigentlichen Versicherungsbedarf stehen.
Tom Van den Brulle: “Ich glaube, dass Kunden auf echte Werte, Vertrauenswürdigkeit und Auswahlmöglichkeiten achten. Sie suchen nach immer umfassenderen Serviceangeboten. Und die müssen Sie anbieten können. Diese Herausforderung lässt sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Die Frage ist, ob der Versicherungsblickwinkel der relevanteste ist. Das mag in einigen Fällen so sein. In anderen Fällen könnte ein anderer Blickwinkel relevanter sein. Wenn ein Kunde zum Beispiel einen Flug bucht, möchte er vielleicht auch noch eine Reiseversicherung, ein Hotel und einen Mietwagen dazubuchen. Die Herausforderung besteht darin, mithilfe von Technologie, aber auch mittels Partnerschaften mit den richtigen Anbietern das Element Versicherung in die Flugreise zu integrieren. Das müssen Partner sein, die Zugang zu den Kunden haben und deren Vertrauen genießen. Darauf kommt es an.”
finanzwelt: Ausgehend von der zentralen Bedeutung vertrauenswürdiger Partner, welche Art Ökosystem stellen Sie sich für die Versicherungsbranche der Zukunft vor?
Tom Van den Brulle: “Da gibt es unterschiedliche Betrachtungsweisen. Es sieht so aus, als würde sich die Wertschöpfungskette in der Versicherungsindustrie zunehmend fragmentieren. Wir haben nicht den einen Versicherer, der die gesamte Wertschöpfungskette vom Kapitalmarkt bis zum Versicherungsnehmer abdeckt. Die Wertschöpfungskette besteht eher aus einer ganzen Palette an unterschiedlichen Akteuren – und das sehen wir auch im InsurTech-Bereich –, die unterschiedliche Konzepte und Wertprozesse zum Serviceangebot für den Endkunden beisteuern. Es wäre wirklich spannend, wenn es eine Plattform gäbe, die all diese verschiedenen Experten und erstklassigen Leistungen zusammenführen würde.Das jüngste DIA-Event beinhaltete jedoch auch einige interessante Beispiele über die Verwendung von Blockchains, die uns gezeigt haben, dass Versicherungsunternehmen in einigen Jahren, falls sich die Technologie durchsetzt, wahrscheinlich eine völlig andere Rolle spielen und möglicherweise mit einem veränderten Geschäftsmodell arbeiten werden. Wenn man Investoren und Risikoträger direkt zusammenbringt, kann man wahrscheinlich auf einen Mittler verzichten, einschließlich der Lösung des Problems diskretionärer Rechtsbedingungen.Der zweite Blickwinkel beginnt ganz offensichtlich mit der Frage, wer Zugang zum Kunden hat. Wer hat den direkten Kundenkontakt? Wer kann Vertrauen bilden und den Kunden ein so gutes Gefühl vermitteln, dass sie zurückkommen und weitere Serviceangebote in Anspruch nehmen? Selbst wenn sie wahrscheinlich etwas weniger kompetitiv sind. Eine Perspektive ist also die Fragmentierung der Wertschöpfungskette, und die andere ist der Wert der Kundeninteraktion.”
finanzwelt: Das hat offensichtlich Auswirkungen auf die Rolle, die Versicherungsunternehmen in einem Ökosystem spielen sollten, insbesondere im Hinblick auf den inhärenten Wunsch, “die Fäden in der Hand” zu halten und das Ganze zu orchestrieren.
Tom Van den Brulle: “Ja, die Rolle kann variieren zwischen der übergeordneten Steuerung und der Position eines einfachen Verbindungsknotens´. Viele neue Produkte und Servicenangebote werden rund um bestimmte Lebensereignisse gestaltet sein, zum Beispiel Eheschließung, Hauskauf und die Geburt von Kindern. Folglich könnte sich die Rolle der Versicherungsunternehmen über das traditionelle Risikomanagement und die Abdeckung eines Versicherungsrisikos hinaus erstrecken. Natürlich sollten die Versicherer definieren, welchen speziellen Mehrwert sie in einem Ökosystem bieten. Am besten eignet sich ein gemischter Ansatz, in dessen Mittelpunkt die gemeinsame Wertschaffung für Kunden steht, und vor allem natürlich Serviceangebote, die auf eine Risikominderung abzielen. Nehmen Sie Drover, eine Mobility-Service-Plattform, an der die Munich Re beteiligt ist. Über ein flexibles Abo-Modell vermietet Drover Privatkunden und Fahrern von Fahrgemeinschaften in Großbritannien Autos. Im monatlichen Paketpreis sind auch die Versicherung und weitere Zusatzleistungen enthalten. SaveUp ist eine digitale Finanzplattform zum einfachen Sparen und Investieren, die von der Munich Re entwickelt wurde und Erstversicherer als White-Label-Lösung zur Verfügung steht.”
finanzwelt: Wie wichtig sind InsurTech-Firmen für die Entwicklung von Plattformen und Ökosystemen?
Tom Van den Brulle: “Wir sind davon überzeugt, dass InsurTech-Firmen unverzichtbare Partner sind. Sie machen viele Dinge besser, sind oft fokussierter und gehen mehr in die Tiefe. Vor einigen Jahren haben wir sie noch als digitale Kundenschnittstelle für das Versicherungsgeschäft betrachtet. Aber wenn man noch einmal auf das Konzept der fragmentierten Wertschöpfungskette zurückkommt, gibt es inzwischen sehr viele unterschiedliche Technologiepartner, die einen Beitrag zu Kundenlösungen leisten können. Einige kaufen wir, mit anderen gehen wir Partnerschaften ein und finanzieren sie mithilfe von Risikokapital. Wir versuchen dabei möglichst intelligent vorzugehen, um zu verstehen, wie wir das Serviceangebot, das wir den Kunden präsentieren, am besten erweitern und verbessern können. Das ist inzwischen eine wesentlich komplexere Herausforderung, als noch vor wenigen Jahren.”
finanzwelt: Woran liegt das?
Tom Van den Brulle: “Das liegt daran, dass sich die technologische Entwicklung so stark beschleunigt hat, und dass wir inzwischen ganze Wertschöpfungsketten digitalisieren, und nicht nur den Teil, in dem die direkte Kundeninteraktion stattfindet. Es macht aber auch ganz erheblichen Spass, die neue Wertschöpfungskette zu betrachten und alle Teile zusammenzuführen. Wir sehen das positiv, allerdings ist es eine Herausforderung für uns, stets an der Spitze der Entwicklung zu bleiben. Sie müssen viel mehr tun und brauchen dafür ganz andere Leute. Wir befinden uns inzwischen in einem echten Kampf um die besten Nachwuchskräfte; das ist wahrscheinlich etwas, das wir noch vor einigen Jahren gar nicht so wahrgenommen haben.”
finanzwelt: Ist das auch einer der Gründe, weshalb Sie Chairman bei InsurTech Hub Munich sind?
Tom Van den Brulle: “Der InsurTech Hub Munich ist eine Initiative der deutschen Bundesregierung, mit der gewährleistet werden soll, dass die digitale Thematik vorangetrieben wird. München ist ein wichtiges Versicherungszentrum, und wir bringen all die unterschiedlichen Partner, Hochschulen, Technologieunternehmen und Startups in München zusammen, in dem Versuch, der Versicherungsindustrie die Interaktion und die Verwendung der unterschiedlichen Technologien zu erleichtern.”
finanzwelt: Ein Aspekt, der uns an InsurTech Hub Munich besonders gefällt, ist der Umstand, dass zu seinen aktiven Mitgliedern führende Universitäten und Business Schools gehören. Das könnte dabei helfen, hochqualifizierte Nachwuchskräfte – im unternehmerischen wie im versicherungstechnischen Sinne – zu gewinnen, die mit einem offeneren Blick in die Versicherungsindustrie kommen, als es bisher der Fall ist. Oft heißt es, der “Kampf um die besten Talente” genieße bei der Entwicklung von Ökosystemen höchste Priorität.Tom Van den Brulle: “Ich glaube, vor einigen Jahren begannen wir alle aus unternehmenskulturellen Gründen mit Insurtechs zu arbeiten. Weil es cool war und weil wir diese Startups und die Gründe, aus denen ihre Mitarbeiter Kapuzenshirts trugen, nicht verstanden. Aber an einem bestimmten Punkt wurde es dann mühselig – und wir wollten unsere Krawattenkultur zurück. Heute geht es viel eher um den Zugang zu Programmierern, zu KI-Spezialisten und den Leuten, die dort wirklich Wert generieren. Das Ganze ist außerdem immer komplexer geworden. Aus diesem Grund haben wir, der InsurTech Hub Munich, zum Beispiel eine Partnerschaft mit Plug and Play gegründet. Plug and Play arbeitet mit einem Accelerator-Programm. Und wir sind eine Partnerschaft mit DIA eingegangen, um die richtigen Leute zusammenzubringen und sicherzustellen, dass wir Zugang zu ihnen haben. Das hat heute weniger mit Unternehmenskultur zu tun – auch wenn das alles sehr cool ist –, sondern ist inzwischen viel starker geschäftsgetrieben.”finanzwelt: Bei Ökosystemen geht es nicht nur um ergänzende Fähigkeiten, mit denen Kunden eine umfassendere Lösung geboten werden kann, sondern auch darum, in einer offenen Atmosphäre voneinander zu lernen.Tom Van den Brulle: “Absolut. Bei Munich Re Digital Partners zum Beispiel, achten wir darauf, ein InsurTech-Ökosystem zu schaffen, in dem unsere Partner voneinander lernen können, so dass die beteiligten Akteure voneinander profitieren, aber auch das Netzwerk, das wir entwickeln, als Ganzes. Denken Sie an Themenkonferenzen, in denen sich CTOs, CEOs und andere InsurTech-Experten und Führungskräfte über ihre Erfahrungen und Erkenntnisse in Bezug auf spezifische Schlüsselthemen austauschen. Denken Sie an die Kunden der Munich Re, die unsere Partner zum Beispiel zum Thema Regulierung und Markteintritt beraten – ausgewählte Anbieter, die unseren Partnern eine Palette an unterschiedlichen Serviceleistungen offerieren, zum Beispiel auf den Gebieten Recht, Unternehmensberatung und Personal. Und Technologieanbieter, die Backend- und Zahlungssysteme aufbauen und andere notwendige Integrationsleistungen erbringen können.”finanzwelt: Sie sind in so vielen unterschiedlichen Ökosystemen aktiv, welches ist nach Ihrer sehr umfassenden Erfahrung die wichtigste Erkenntnis, die Sie in Bezug auf die Entwicklung und Pflege von Ökosystemen gerne teilen würden?Tom Van den Brulle: “Nun, meine Erkenntnis lautet, dass wir den Mut aufbringen müssen, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Wenn wir zum Beispiel Internet of Things und die Auswirkungen betrachten, die es auf die Schadenhäufigkeit haben wird, dann ist die Risikoprävention das Gebiet, auf dem wir unsere Rolle ausweiten können. Wir wissen, worum es geht. Wir kennen uns mit Risiken aus. Wir wissen, wo und wie sie entstehen, wie sie sich entwickeln und was man dagegen tun muss. Die Kooperation mit Bosch, die wir vor kurzem angekündigt haben, ist ein Schritt in diese Richtung. Ein weiteres Beispiel, um zu verdeutlichen, was ich mit ´Mut aufbringen´ meine: Stellen Sie sich vor, Sie würden einem Risikomanager eines Industrieunternehmens gegenübersitzen. Wahrscheinlich würde er in schallendes Gelächter ausbrechen, wenn Sie ihm sagen würden, wie wenig Risiko wir zu übernehmen bereit sind. Angesichts all der Daten, die wir sammeln, müssen wir mutiger werden und auf das Gebiet der Leistungen zur Risikoprävention vordringen und diesen Unternehmen Lösungen bieten, die für sie und die Realität ihrer Industrie eine höhere Relevanz besitzen.”[video width="1920" height="1080" mp4="https://finanzwelt.de/wp-content/uploads/2019/05/finanzwelt.mp4"][/video]