Der Moment der Wahrheit

06.09.2015

Didier Saint-Georges

Nachdem wir seit Jahresbeginn mehrfach auf die zunehmende Instabilität der Finanzmärkte hingewiesen haben, musste letztendlich ein Funke dieses äußerst leicht entflammbaren Gemischs aus Märkten, die seit fünf Jahren von immer wehrloseren Zentralbanken getragen werden, und einem nicht in Fahrt kommenden weltweiten Wachstum, entzünden.

Dieser Funke war die Entscheidung der chinesischen Zentralbank, die Parität des Renminbi am 11. August um einige Prozent zu senken. Diese Entscheidung ist jedoch nur ein Katalysator: Denn obwohl sich das chinesische Wachstum stark abgeschwächt hat, was keine Sensationsmeldung ist, deuten keine verlässlichen Daten darauf hin, dass es in jüngster Zeit eingebrochen wäre, was das banale Einleiten einer wettbewerbsorientierten Abwertung rechtfertigen würde. Der Kern der Geschichte ist komplexer, aber auch explosiver. Es geht dabei um die Kollision zwischen dem allgemeinen Übergang, den die USA weg von den Ende 2009 ergriffenen Rettungsmaßnahmen vollzieht und dem Kurs Chinas: Dieser steuert mit voller Kraft auf eine tiefgreifende Restrukturierung der Wirtschaft des Landes sowie auf die Öffnung seiner Kapitalmärkte. Die enormen Liquiditätsspritzen für das weltweite Finanzsystem seit sechs Jahren, die einen Höhenflug von Finanzanlagen (+200% für den Index S&P500 seit seinem Tiefpunkt von 2009), das Aufblähen der chinesischen Währungsreserven und ein nie dagewesenes Schrumpfen der Zinssätze ermöglicht haben, stoßen an ihre Grenzen. Das Ende des Quantitative Easing der Fed seit Oktober 2014 und die unausweichliche Inangriffnahme der Kreditblase in China beginnen im Finanzsystem allmählich Wirkung zu zeigen. Dies erfolgt zu einem Zeitpunkt, in welchem die Weltwirtschaft nach wie vor instabil ist und die chinesische Konjunktur sich abschwächt. Die Anspannung dieser weltweiten Liquiditätsbedingungen, insbesondere bei einem weiteren Kapitalabfluss aus China und den Schwellenländern, erhöht die Gefahr eines Deflationsdrucks auf die Industrienationen, den sie kaum gebrauchen können. In Vorausschau auf diese Problematik sind die Märkte nun in eine instabile Übergangsphase eingetreten. Diese nunmehr sehr konkrete Situation zwingt uns dazu, eine sehr vorsichtige Anlagestrategie umzusetzen, auf die wir uns seit Jahresbeginn vorbereitet haben.

Das Risiko für die Industrienationen ist weniger eine Zuspitzung der Konjunkturschwäche Chinas, sondern vielmehr eine massive Verschlechterung der Zahlungsbilanz des Landes. Die Konjunkturschwäche Chinas ist bekannt, und die im August veröffentlichten Wirtschaftsdaten (Industrieproduktion, Exporte, Investitionen) haben diesen Trend nur noch bestätigt. Weniger bekannt ist hingegen die Geschwindigkeit der Neugewichtung, durch die der Beitrag von Dienstleistungen zum BIP den der Industrie um 15% übersteigt. Diese wirtschaftliche Umstrukturierung ist besonders schmerzhaft für die Handelspartner Chinas und lässt sie zu Recht ein Wachstum, das wir heute auf etwa 5% pro Jahr schätzen (Konsumausgaben allein verzeichnen ein Wachstum von 10% und der e-Commerce wächst um 38% pro Jahr), als eine „harte Landung“ empfinden.

Das Hauptproblem liegt woanders: Das Ende des Quantitative Easings und die Aussicht auf eine Anhebung der Leitzinsen durch die Fed haben einen massiven Rückfluss von Kapital ausgelöst, das seit 2009 in China investiert war. In Wirklichkeit gehen die Anfänge dieses Phänomens sogar auf 2003 zurück. Der daraus resultierende Abwärtsdruck auf den Renminbi hat sich verschärft, seit die chinesischen Behörden am 11. August das effektive Ende der systematischen Kopplung an den US-Dollar bekanntgaben. Und dieser Druck zwingt sie nun dazu, ihre Währungsreserven zu verwenden, um einen unkontrollierten Fall der Währung zu verhindern. China verfügt natürlich über ein beträchtliches Polster an Währungsreserven und dürfte bestens gerüstet sein. Doch die Verwendung seiner Währungsreserven zur Unterstützung seiner Landeswährung ist eine bedeutende Wende des Trends der vergangenen sechs Jahre. Dies steht in Einklang mit dem Ehrgeiz Chinas, dem Renminbi den Status einer starken und stabilen Währung zu verleihen und ihn schnell zur Reservewährung zu machen. Doch dieser Trend läuft heute einer stark schwächelnden chinesischen Wirtschaft und einer immer noch an weitere Geldschöpfung gewöhnte Weltwirtschaft zuwider.

Einigen Studien zufolge könnten in den kommenden zwölf Monaten über 600 Milliarden Dollar aus China abfließen, indem die berüchtigten Carry-Trades aufgelöst werden, diese Gespenster der amerikanischen Geldschöpfung der vergangenen Jahre. Dieser Druck könnte die chinesischen Behörden irgendwann dazu veranlassen, ihre Währung noch weiter einbrechen zu lassen, statt weiter aus ihren Währungsreserven zu schöpfen. Eine solche Kapitulation unter dem Druck der Märkte wäre für die Handelspartner Chinas wahrscheinlich ein Heilmittel, das schlimmer als die Krankheit ist. Denn für China würde dies bedeuten, dass es letztendlich über die Abwertung der Währung seinen eigenen Deflationsdruck an seine Handelspartner „exportiert“. Ein weiteres Element dieses besorgniserregenden Bildes ist das sehr stark gesunkene Vertrauen in die Beherrschung der Lage seitens der chinesischen Behörden. Denn sie haben jüngst viel an Glaubwürdigkeit verloren, als sie äußerst ungeschickt zu Jahresbeginn eine Bewertungsblase an den heimischen Aktienmärkten erzeugten, indem sie Privatanleger zu spekulativen Käufen ermunterten, und dann das Platzen dieser Blase sehr schlecht managten. Bis heute sind hunderte chinesischer Titel noch vom Handel ausgesetzt.

Konjunkturschwäche und Verknappung von Liquidität passen nicht gut zusammen. Was das gesamte Bauwerk besonders instabil macht (siehe „Eine zerbrechliche Welt“), ist die Tatsache, dass die ganze geldpolitische Unterstützung für das weltweite Finanzsystem seit 2009, eine beträchtliche Aufwertung von Finanzanlagen ermöglicht hat. Allerdings ist es ihr aber lediglich gelungen, die entwickelten Volkswirtschaften auf einen Kurs sehr schwachen Wachstums zu steuern. Trotz einer Aufwärtskorrektur für das zweite Quartal wird das Wachstum der amerikanischen Wirtschaft in diesem Jahr nur knapp über 2% liegen. Die Konjunkturerholung Man sollte nicht aus den Augen verlieren, dass eine erneute Konjunkturschwäche und ein Wiederaufleben des Deflationsdrucks nicht mit einer nach wie vor überschuldeten Welt vereinbar wären. Die Inflationserwartungen testen die Glaubwürdigkeit der Zentralbanken in der Eurozone scheint anzuhalten, aber das Wachstum für 2015 wird kaum über 1,5% liegen. Demzufolge macht die Schwäche der Wirtschaftslokomotive China zu einem Zeitpunkt die Bewertungsniveaus anfällig, an dem die Unterstützung der Märkte durch Liquidität gefährdet ist und was ein Anziehen der Weltwirtschaft verhindert. Zudem ist ganz offensichtlich, dass die von den Zentralbanken ausgeschütteten Liquiditätsströme es nicht ermöglicht haben die Inflation in den Industrienationen über den Gefahrenbereich hinaus anzuheben. Ein Wiederausbrechen des Deflationsdrucks, der durch eine allgemeine Schwäche der Schwellenländer und ihrer Währungen verursacht würde, wäre für die Volkswirtschaften Amerikas und Europas ein zusätzliches Problem.

Das Trugbild eines unendlichen Quantitative Easings

Viele Anleger haben ihr Vertrauen in die Märkte auf die Annahme gegründet, dass ein schwaches weltweites Wirtschaftswachstum die beste Garantie für eine unablässige geldpolitische Unterstützung durch die Zentralbanken der Industrieländer wäre. Dieses Vertrauen hat es seit fünf Jahren ermöglicht, systematisch jede schlechte Wirtschaftsnachricht als eine gute Nachricht für die Märkte zu interpretieren. Der verstärkte Abfluss von Kapital aus den Schwellenländern, als ein Phänomen, das die weltweite Liquidität verringert, ist somit die erste Herausforderung für diese bequeme Einstellung. Doch darüber hinaus sind sich die Zentralbanken der Tatsache bewusst, dass sie mit dieser Flucht nach vorn, bei der pausenlos neues Geld geschaffen wird und Finanzanlagen schneller aufgewertet werden als es gelingt, die Wirtschaft anzukurbeln, ihre eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen. Janet Yellen steht heute an vorderster Front und sieht sich bis zum Jahresende bereits mit der äußerst heiklen Situation konfrontiert: Sie muss sich entscheiden, ob sie die Flucht nach vorn noch ein wenig fortsetzen will, um die amerikanische Wirtschaft vor dem chinesischen Funken zu schützen: Oder aber sie hebt die Leitzinsen allmählich an, um die Glaubwürdigkeit der Fed zu erhalten, auf die Gefahr hin, Öl ins Feuer zu gießen.

Was tun?

Die starke Volatilität, mit der die Anleger im August auf den Aktienmärkten konfrontiert waren, ist zu einem großen Teil auf das Gewicht der passiven und algorithmischen Verwaltungen zurückzuführen. Ebenso auf die Absicherung der riesigen offenen Optionspositionen, die auf mechanische Weise Verkaufs- und Kaufaufträge ausgelöst und damit die Marktbewegungen verstärkt haben. Diese übermäßigen Schwankungen haben den Mehrwert der fundamentalen Verwaltung auf sehr kurze Sicht lächerlich gering ausfallen lassen. Doch das Problem reicht darüber hinaus. Das Risiko einer Verknappung der weltweiten Liquidität ist eine Bedrohung für die Märkte, die eine erhebliche Reduzierung der Exposures in allen Anlageklassen (Aktien, Zinsen, Währungen) rechtfertigt. Denn man sollte nicht aus den Augen verlieren, dass eine erneute Konjunkturschwäche und ein Wiederaufleben des Deflationsdrucks nicht mit einer nach wie vor verschuldeten Welt vereinbar wären.

Natürlich ist diese Aussicht hinreichend ungünstig, dass die Märkte ihr nicht auf Anhieb zustimmen können. Die Zentralbanken können den Moment der Wahrheit noch hinausschieben, indem sie noch einen ausschweifenden Trost eines unendlichen QE spenden. Es könnte sich herausstellen, dass die chinesischen Behörden in der Lage sind, die Kapitalabflüsse zu stoppen und sei es durch die Wiedereinführung einer praktisch absoluten Kapitalkontrolle. Vielleicht muss man dann den Alarm für beendet erklären und vorübergehend wieder zu ehrgeizigeren Exposures zurückkehren. Selbst unter dieser Annahme ist es jedoch weiterhin gerechtfertigt, mehr denn je Portfoliozusammensetzungen aufrechtzuerhalten, die auf das Umfeld eines zerbrechlichen Wachstums abgestimmt sind. Auf ein Anziehen des Konjunkturzyklus zu setzen, erscheint uns heute als ein Ausdruck von großer Blindheit. Andererseits könnte in einer Welt, in der Unternehmen, die in der Lage sind ein starkes Gewinnwachstum zu erzielen, seltener als je zuvor zu finden sein werden, die Auswahl dieser Champions, die oft Weltmarktführer in ihren jeweiligen Sektoren mit hoher Wertschöpfung sind, den Unterschied gegenüber den geschundenen Börsenindizes ausmachen. Auch die äußerst strenge Auswahl von Unternehmensanleihen könnte im Anleiheuniversum eine Quelle absoluter Performance sein. In jedem Falle bietet sich für die aktive Verwaltung eine historische Chance, sich gegenüber der passiven Verwaltung zu beweisen.

Autor: Didier Saint-Georges, Mitglied des Investmentkomitees von Carmignac Gestion