Zu viele unbeantwortete Fragen in der EU

14.11.2017

Karsten Junius, Chefökonom, Bank J. Safra Sarasin AG / Foto: © Bank J. Safra Sarasin

Die Argumentation der Einheitsbefürworter sollte daher (1) die Vorteile einer gemeinsamen Einheit herausstellen und (2) die Bedenken der Gegner ernst nehmen. Beides ist im Vorfeld des Brexit-Referendums nicht geschehen und auch in Spanien derzeit nicht sichtbar. Die Vorteile regionaler Einheiten sind im Zeitalter der Globalisierung tatsächlich sehr schwer zu vermitteln – da dies nationale Grenzen aufzulösen scheint. Das Bedürfnis nach einer regionalen Identität sollte daher nicht überraschen; die Angst vor Überfremdung auch nicht.

Die europäische Integration bietet dabei ein Sicherheitsnetz, das die Vorteile regionaler Zusammenschlüsse auf einer niedrigeren Ebene verschwimmen lässt. Darunter leidet auch die Europäische Union selbst, die nur eine spezielle regionale Einheit darstellt, auf der europäische Integration stattfindet. Andere Einheiten sind der Schengen-Raum, die Europäische Währungsunion, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die Europäische Verteidigungsgemeinschaft…. Vieles erscheint auch ohne EU möglich – "Pick-And-Choose". Die Vielfalt könnte eine Stärke Europas sein. Im Fall von UK hat sie nicht funktioniert, da es für die britischen Präferenzen kein Modell gab – wirtschaftliche Integration ohne Personenfreizügigkeit ist nicht vorgesehen. Warum eigentlich nicht? Auch dazu gibt es zu wenige überzeugende Erklärungen. Meist wird Personenfreizügigkeit als Konzession dargestellt, die zu akzeptieren ist, wenn man die übrigen Freiheiten in Europa wie den freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr geniessen möchte. Überzeugend ist das für viele Wählerinnen und Wähler nicht. Eine Regelung, die von allen lediglich als Konzession betrachtet wird, scheint keine Vorteile zu haben. Jedenfalls konnten die EU wie auch die EU-Befürworter in UK weder vermitteln, dass Personenfreizügigkeit eine ökonomisch notwendige Bedingung für die übrigen wirtschaftlichen Freiheiten ist, noch dass sie breiten Bevölkerungsgruppen wichtige Vorteile verschafft. Beides wäre möglich gewesen.

Dabei hilft nicht, dass Abspaltungsbefürworter häufig noch weniger Antworten auf viele ganz reale Fragestellungen haben – wie das Brexit-Lager derzeit demonstriert. Erst recht würde es nicht helfen auf eine abschreckende Wirkung von Brexit oder anderen Sezessionen zu setzen. UK oder Katalonien würden keine Einzelfälle bleiben. Stattdessen müssen Nationalstaaten und die EU sich an ein verändertes Umfeld anpassen. An ein Umfeld, in dem die Globalisierung von einigen Bevölkerungsgruppen als Identitätsverlust empfunden wird und in dem die Vorteile der Zugehörigkeit zu einer nationalen oder supranationalen Einheit weniger offensichtlich erscheinen als sie es beispielsweise für die Nachkriegsgeneration sind. Zu leicht ist es sonst für Populisten, den empfundenen Souveränitätsverlust auszunutzen und ihn nicht im Zusammenhang mit den Vorteilen einer nationalen oder europäischen Einigung und Einheit zu sehen. Selbstverständlich sind diese nämlich nicht.

Kolumne von Karsten Junius, Chefökonom, Bank J. Safra Sarasin AG