London vs. Luxemburg: Des einen Leid ist des anderen Freud?

01.08.2016

Quentin Vercauteren

In Luxemburg, einem der 6 Gründungsmitglieder der Europäischen Union, waren nur ganz vereinzelt Freudenschreie zu hören, als die Briten für den Ausstieg aus der EU stimmten.

Das Großherzogtum hat sich schon immer für die europäische Integration stark gemacht, einschließlich des freien Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehrs. Durch den Brexit hat diese Idealvorstellung – und der Gedanke der Einheit Europas – Risse bekommen. Das ist alles andere als eine Lappalie in einem Land mit 575.000 Einwohnern und einem Ausländeranteil von über 40 %. Darüber hinaus pendeln 150.000 Grenzgänger tagtäglich zwischen Luxemburg und Belgien, Frankreich und Deutschland. Angesichts dieser polyglotten Realität in Luxemburg lernen die Kinder hier in der Schule mindestens 4 Sprachen, darunter Letzeburgisch, Deutsch, Französisch und Englisch. Das Land ist tief verwurzelt in traditionellen Werten, gleichzeitig aber offen für neue Ideen und äußere Einflüsse. Vor kurzem erst musste ich schmunzeln, als ich in dem Ort, in dem ich lebe, folgendes Plakat für die Neueröffnung eines Restaurants sah: „Taco Tikka“. Es gibt dort sowohl mexikanische als auch indische Speisen – einen solchen Ort würde man eher in Großbritannien erwarten, aber nicht unbedingt in Bridel (Bevölkerung: 2.700). Angesichts dieser ausgeprägten internationalen Orientierung überrascht es nicht, dass mehr als 3 Viertel der Luxemburger glauben, dass das Großherzogtum innerhalb Europa stärker ist. Außergewöhnlich ist nicht nur die Demografie, sondern auch die Tatsache, dass in dem Land so viele EU-Institutionen ansässig sind, wie u. a. die Europäische Investitionsbank und der Europäische Gerichtshof – die Europäische Union ist der zweitgrößte Arbeitgeber des Landes. Finanzdienstleister sind ein weiterer großer Arbeitgeber, auf diese Branche entfallen rund ein Drittel des BIP. Mit rund 150 Banken (Gesamtvermögen von etwa 800 Mrd. €) ist Luxemburg ein echter Private-Banking-Hub, der über 300 Mrd. € verwaltet und jährliche Umsätze von mehr als 3 Mrd. € erwirtschaftet. Hier agieren ausländische wie luxemburgische Privatbanken Seite an Seite in einem extrem dynamischen Vermögensverwaltungs- und Versicherungssektor – und in einem Umfeld, das durch eine außergewöhnlich hohe politische Stabilität gekennzeichnet ist. Zudem kann aus einem Pool hochqualifizierter, äußerst produktiver Fachkräfte geschöpft werden. Im Übrigen ist das Großherzogtum mit einem verwalteten Nettovermögen von über 3 Bio. € das europaweit größte und das weltweit zweitgrößte Fondszentrum nach den USA. Im neuesten Ranking der internationalen Finanzzentren – angeführt von London, was nicht wirklich überrascht – belegt Luxemburg den 14. Platz weltweit und den 1. in der Eurozone, noch vor Metropolen wie Frankfurt, München, Paris und Amsterdam. Londons Spitzenplatz ist jetzt natürlich in Gefahr. Nach einer aktuellen Studie von PwC könnte der Brexit den Verlust von bis zu 100.000 Arbeitsplätzen in der Finanzdienstleistungsbranche in den nächsten 3 Jahren bedeuten, weil sich internationale Unternehmen anderweitig orientieren werden, um Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu erhalten. Einige dieser Arbeitsplätze, vor allem direkt in London, werden möglicherweise für immer verschwinden. Die meisten jedoch werden in Länder jenseits des Ärmelkanals verlagert werden, einige sicherlich auch nach Luxemburg. Gleich nach dem Brexit-Referendum fingen Marktkenner an, nach einem Nachfolger für London als Europas wichtigstem Hub der Finanzdienstleistungsbranche zu suchen. James B. Stewart, US-amerikanischer Journalist und Pulitzer-Preisträger, gehörte zu den ersten, die die Konkurrenz anhand von Kriterien wie Englischsprachigkeit, regulatorisches Umfeld, Infrastruktur, Schulen und Kulturangebot bewerteten. Stewarts vielbeachtete Liste der Top 9 wurde angeführt von Amsterdam (hoher Grad an Englischsprachigkeit, vielfältiges kulturelles Leben, hervorragende Erreichbarkeit mit dem Flugzeug, sehr gut ausgebautes Schienennetz und erstklassige Schulen), gefolgt von Frankfurt, Wien und Dublin. Luxemburg belegt in der Gesamtwertung Platz 6 – gewürdigt wurden der hohe Entwicklungsstand und die Lebensqualität, aber das Land wird als zu klein betrachtet, um die Vielzahl an Bankern aus London aufzunehmen. Das ist nicht von der Hand zu weisen: Über 360.000 Menschen sind in der britischen Hauptstadt im Finanzdienstleistungssektor beschäftigt, das entspricht in etwa der gesamten Erwerbsbevölkerung Luxemburgs und nahezu dem Zehnfachen der Größe der luxemburgischen Finanzdienstleistungsbranche. Trotz dieser größenmäßigen Einschränkung haben verschiedene führende internationale Unternehmen bereits verlauten lassen, dass sie mit einer Verlagerung ihrer europäischen operativen Hubs von London ins Großherzogtum liebäugeln. In den kommenden Monaten und Jahren werden es immer mehr werden. Das Großherzogtum wird diese Unternehmen und ihre Mitarbeiter mit offenen Armen aufnehmen. Schadenfreude wegen möglicher negativer Auswirkungen auf den internationalen Status Großbritanniens ist den Luxemburgern fremd. Die Luxemburger haben einen extrem hohen Lebensstandard; der OECD zufolge sind der Gemeinschaftssinn und die Bürgerbeteiligung dort von allen Industrieländern am stärksten ausgeprägt. Diese Aspekte – die Stärken des Landes – sind in vielerlei Hinsicht die Folge des Projekts „Europa“ mit den Grundpfeilern Pluralismus, Integration und Solidarität. Ohne Grenzen sind wir hier auf jeden Fall besser dran.

Von: Quentin Vercauteren, KBL European Private Bankers