Der Gesundheitssektor 2024: Ein defensives Investment?
09.01.2024
Rudi van den Eynde, Head of Thematic Global Equity Management - Foto: © Candriam
Spannende Durchbrüche: Mittel gegen Adipositas
Gleichzeitig sehen wir einigen interessanten Fortschritten bei der Medikamentenentwicklung entgegen. Angeregte Aktivität ist beispielsweise für die GLP-1-Arzneimittelkategorie Adipositas zu erwarten. Adipositas – auch als Fettleibigkeit bekannt – ist eine globale Herausforderung für das öffentliche Gesundheitswesen und betraf im Jahr 2020 mehr als 40 Prozent der Erwachsenen in den USA. Bis 2035 wird dieser Anteil voraussichtlich auf 50 Prozent steigen. Die Folgen von Adipositas sind gravierend und führen zu einer Vielzahl von damit verbundenen Gesundheitsaufwendungen. Arzneimittel zur Adipositas-Behandlung waren in der Vergangenheit oft von Sicherheitsbedenken und Marktrücknahmen überschattet, denn frühere therapeutische Optionen wiesen Nebenwirkungen und eine geringe Rezeptorspezifität auf, führten zu einer Aktivierung von Dopaminersatz und somit zu Sucht sowie zu Verhaltensnebenwirkungen. Das führte zu Skepsis gegenüber therapeutischen Optionen. Ansätze, die auf Änderungen der Lebensweise basieren, erwiesen sich für nachhaltigen Gewichtsverlust dagegen oft als unzureichend.
Nach 100 Jahren voller gescheiterer Bemühungen erleben wir mit der Zulassung einer neuen Arzneimittelklasse, die auf das Glukagon-ähnliche Peptid-1 (GLP-1) abzielt, nun endlich einen echten Wandel. Zum ersten Mal überhaupt stehen wirksame Medikamente zur Gewichtsabnahme zur Verfügung, die relativ verträglich sind, nachdem sie sich bereits als Diabetes-Medikamente bewährt haben. Angesichts der positiven Ergebnisdaten zu Co-Morbiditäten wächst unter den privatwirtschaftlichen Versicherungsunternehmen und den staatlichen Versicherungsträgern die Zahl jener, die eine Kostenübernahme befürworten. Im klinischen und regulatorischen Umfeld liegt der Schwerpunkt auf der Sicherheit sowie auf greifbaren Endpunkten wie kardiovaskulären Ereignissen und Mortalität – und die GLP-1-Therapien konnten ihre Wirksamkeit bisher beweisen.
Angesichts dieser Aussichten gerieten einige Teilsektoren der Gesundheitsbranche jedoch unter Druck: Anleger befürchten, dass mit der Verbesserung der öffentlichen Gesundheit die Nachfrage nach kardiovaskulären Geräten oder orthopädischen Implantaten sinken könnte. Unserer Meinung nach sind GLP-1-Medikamente wirksam und markieren einen großen Fortschritt bei der Behandlung von Adipositas. Gleichzeitig scheint es übertrieben, Medizintechnikunternehmen den Untergang zu prophezeien, da kardiovaskuläre und andere Probleme vielfältige Ursachen haben und auch das Ergebnis jahrzehntelangen Übergewichts sind. Daher sehen wir hier eine Kaufgelegenheit für die betroffenen MedTech-Unternehmen.
Darüber hinaus sind stark adipöse Patienten von bestimmten Operationen ausgeschlossen. Einen weniger extremen Body-Mass-Index (BMI) zu erlangen, könnte es diesen Patienten ermöglichen, beispielsweise eine künstliche Hüfte zu erhalten. Folglich können sich die Ergebnisse von GLP-1 auch positiv auf Medizintechnikunternehmen auswirken. Bei näherer Betrachtung der Einzelheiten aus der Ergebnisstudie von Novo Nordisk zeigt sich, dass der gesundheitliche Nutzen für US-Patienten weniger ausgeprägt war. Die genauen Gründe dafür sind noch nicht geklärt, stehen aber möglicherweise in Verbindung mit den sehr hohen BMI-Ausgangswerten bei Studienbeginn. Auch hier scheint die Annahme übertrieben, dass kardiovaskuläre und andere Erkrankungen verschwinden würden, wie einige Reaktionen am Aktienmarkt vermuten lassen.
US-Wahlen haben für Healthcare-Aktien wenig Relevanz
Angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA (sowie der Neuwahl einiger Sitze im Kongress) besteht Sorge wegen negativer Rhetorik in Bezug auf den Kostenaspekt des Gesundheitssektors – ein Thema von eindeutiger Relevanz. Wir erwarten von dieser Seite diesmal allerdings keine unangenehmen Überraschungen: Bei den diesjährigen Wahlen geht es eher um den internationalen Handel, die Sicherheit und allgemeine soziale und gesellschaftliche Fragen. Das Gesundheitswesen dagegen scheint dieses Mal nicht im Zentrum des Gefechts zu stehen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Gesundheitskosten im Allgemeinen nicht im Mittelpunkt stehen.
Der von Präsident Biden 2022 unterzeichnete Inflation Reduction Act enthält auch Bestimmungen für Medicare. Im Rahmen dieses Gesetzes können die Centers for Medicare & Medicaid Services (CMS), eine staatliche Behörde, die das Medicare-Programm und andere ähnliche Programme verwaltet, nun die Preise von Arzneimitteln aushandeln, um diese zu senken. Für Preisverhandlungen zugelassen sind dabei Markenmedikamente oder Biologika ohne Generika beziehungsweise Biosimilars, die je nach Medikamententyp erst teilnahmeberechtigt sind, nachdem sie bereits 9-13 Jahre lang auf dem Markt waren. Die Wirkung des Plans dürfte allerdings begrenzt sein: Medikamentenhersteller sind ohnehin bereits mit dem Verlust der Exklusivität oder mit Patentklippen konfrontiert. Daher ist der Schutz von 12 Jahren für Biologicals, der im Biden-Plan angeboten wird, sowieso nahe am effektiven Patentschutz nach Beginn der Vermarktung, den ein neues Medikament de facto genießt. Darüber hinaus sind bestimmte Arten von Medikamenten von Preisverhandlungen ausgeschlossen. Das gilt beispielsweise für Arzneimittel für seltene Krankheiten, für Arzneimittel, für die Generika oder Biosimilars verfügbar sind, oder auch für Arzneimittel von Kleinunternehmen aus dem Bereich der Biotechnologie.
Die genauen Auswirkungen des Plans bleiben ungewiss, unter anderem aufgrund von Unklarheiten in der Verhandlungssprache und anhängigen Gerichtsverfahren in Pharma-Angelegenheiten. Hinzu kommt: Angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen ist die Umsetzung selbst dieses Plans im Jahr 2026 alles andere als sicher.
Innovation ist der beste Schutz
Trotz der guten Aussichten wird zu Beginn des Jahres 2024 nach wie vor große Unsicherheit herrschen. Die Anleger im Gesundheitssektor werden bei der Auswahl ihrer Aktien und der Zusammenstellung ihrer Portfolios erneut solides Urteilsvermögen beweisen und gründliche Analysen vornehmen müssen. Wir sind überzeugt: Innovation und Unternehmen, die den nächsten Durchbruch in der Arzneimittelentwicklung schaffen, bieten den besten Schutz gegen jede politische Einmischung. In den USA wird Innovation stets belohnt. Und tatsächlich schützt der Plan von Joe Biden die Innovationstätigkeit, indem er neu zugelassene Arzneimittel für einen beträchtlichen Zeitraum von jeder Preisverhandlung ausschließt. So wird sichergestellt, dass die Unternehmen, die die Innovationen hervorbringen und vorantreiben, Wahrnehmung erlangen. Wir gehen davon aus, dass der Gesundheitssektor im Jahr 2024 mehr Widerstandskraft zeigen wird.
Gastbeitrag von Rudi van den Eynde, Head of Thematic Global Equity Management bei Candriam