„Den Riesen abzuschreiben wäre verkehrt“

11.04.2024

Carsten Roemheld, Kapitalmarktstratege bei Fidelity International / Foto: © Fidelity International

Eine Reise um die Welt kann sehr erhellend sein. Ganz in diesem Sinne befragte finanzwelt Carsten Roemheld, Kapitalmarktstratege bei Fidelity International, zu den Entwicklungen in den einzelnen Regionen. Welche Märkte sind nach wie vor attraktiv, wie geht es weiter in China und wo kann man die Euroländer wirtschaftlich verorten. Ein spannender Abriss zum Frühjahr 2024.

finanzwelt: Herr Roemheld, in den vergangenen Monaten stand ein Thema ganz weit oben auf der Agenda: die Inflation. Die Preissteigerung dies- und jenseits des Atlantiks ist mittlerweile von ihren Hochs runtergekommen. Wie werden sich die Notenbanken verhalten?

Carsten Roemheld» Grundsätzlich gehen die aktuellen Inflationsraten, sowohl in den USA als auch in Europa, in die richtige Richtung und geben Raum für Zinssenkungen. Gleichwohl müssen wir auch festhalten, dass die Inflation noch weit entfernt ist vom 2 %-Ziel der Zentralbanken. Es ist sogar möglich, dass sie, wie unlängst gesehen, auch nochmal temporär leicht ansteigen kann. Insofern sprechen die aktuellen Daten weiterhin gegen rasche und starke Zinssenkungen. Dennoch sind wir der Meinung, dass die Fed als auch die EZB die Zinsen behutsam senken werden. Für die USA gehen wir von zwei bis drei Zinsschritten aus, voraussichtlich beginnend ab Juni.

finanzwelt: Lassen Sie uns eine kleine Weltreise machen. Insbesondere zu den Industrienationen, die zurückliegend und aktuell eher positiv überraschen, und jenen, die die Investoren tendenziell enttäuschen. Wirtschaftlich gut aufgestellt präsentierten sich in erster Linie die USA. Wie sind dort die Aussichten?

Roemheld» Nach wie vor zeigt sich die US-amerikanische Wirtschaft vergleichsweise robust. Insofern ist es auf relativer Basis immer noch besser, in den Vereinigten Staaten engagiert zu sein als zum Beispiel in Europa. Dennoch ist auch die dortige ökonomische Lage nicht ungetrübt. Im Gegenteil. So steigt die öffentliche Verschuldung der Vereinigten Staaten auf immer neue Rekordwerte. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt die Quote bei mehr als 120 %. Der wirtschaftliche Aufschwung der vergangenen Jahre wurde auch durch die Einführung umfangreicher Konjunkturprogramme ermöglicht, die ihrerseits die Verschuldung in die Höhe getrieben haben. Die Krise auf dem US-Gewerbeimmobilienmarkt ist aktuell ein Thema, das man verfolgen sollte. Viele Bürogebäude in den USA stehen leer.

finanzwelt: Auf der anderen Seite der Welt kriselt es gewaltig. Jahrelang hat China die Welt mit hohen Wachstumsraten beeindruckt. Nun steckt das Land in einer Wachstumsfalle. Wie stark taumelt der Riese?

Roemheld» China wurde aus Anlegersicht zuletzt etwas zu Unrecht vergessen. Die chinesische Wirtschaft ist 2023 nur um 5,2 % gewachsen. Das ist weniger als in der Vergangenheit, aber auch keine Katastrophe. Sorgen macht vor allem der Immobilienmarkt, mit einem BIP-Anteil von 30 % eine der wichtigsten Säulen der chinesischen Wirtschaft überhaupt. Haus- und Wohnungsverkäufe brachen ein, die Zahl der leerstehenden Wohnprojekte nimmt weiter zu. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken und Kapital anzuziehen, braucht es Vertrauen. Und wenn dieses Vertrauen zurückkehrt, zum Beispiel durch staatliche Stimuli, dann ergeben sich für Anleger auch wieder Chancen. Investoren sollten nicht vergessen, über welches langfristige Potenzial die chinesische Wirtschaft verfügt. Den Riesen abzuschreiben wäre verkehrt.

finanzwelt: Reisen wir weiter in das älteste Kaiserreich. Insbesondere der japanische Aktienmarkt hat viele zurückblickend überrascht. Der Nikkei 225 steht um die 40.000 Punkte. Hat Japan die Wende zum Positiven hinbekommen?

Roemheld» Tatsächlich war Japan über Jahrzehnte nahezu abgeschrieben. Das Land kämpfte lange mit einer relativ erfolglos betriebenen Nullzinspolitik gegen die Deflation. Die Zeichen haben sich geändert. Die japanische Wirtschaft verzeichnet Inflationsraten um oder über 2 %, es kommt zu starken Lohnanstiegen und die Zentralbank verabschiedet sich von Negativzinsen. Doch damit nicht genug. Es gibt weitere Argumente, die Japan wieder attraktiver erscheinen lassen. Verbesserungen in der Corporate Governance sind ein Beispiel. Zudem gibt es viele japanische Unternehmen, die auf Zukunftstechnologien und KI setzen und gut positioniert sind. Aktuell gibt es mehr und mehr ausländisches Kapital, was in den japanischen Aktienmarkt fließt. In der Summe nicht ganz überraschend, dass japanische Aktien in diesem Jahr bisher zu den besten Werten der Industrieländer gehören. Auch ein baldiger wirtschaftlicher Aufschwung könnte der Exportnation Japan zusätzlichen Rückenwind verleihen.

finanzwelt: Bleiben wir für den Moment noch in Asien. Ist Indien das neue China? Viel wird darüber diskutiert, der indische Aktienmarkt ist gut gelaufen. Ist auf dem Subkontinent noch Luft nach oben?

Roemheld» Vielfach wird Indien als Nachfolger Chinas gepriesen. Natürlich hat das Land in der Vergangenheit wirtschaftlich enorme Fortschritte gemacht. Angesichts der erwarteten Wiederwahl von Premier Modi könnte man davon ausgehen, dass die Reformen weitergeführt werden. Ein höheres Wirtschaftswachstum könnte zu steigenden Unternehmensgewinnen führen. Mit Blick auf die Bewertungen bin ich aber aktuell etwas skeptisch, was weitere Kurssprünge betrifft. Sollte China in der Gunst der Investoren wieder attraktiver erscheinen, werden Gelder zudem möglicherweise Richtung Peking abfließen. Indien hat Potenzial, allerdings ist aktuell vieles in den Kursen eingepreist.

finanzwelt: Wie fällt Ihr genereller Blick auf die Schwellenländer im Frühjahr 2024 aus?

Roemheld» Ich bin durchaus optimistisch gestimmt. Insbesondere die asiatischen Schwellenländer haben viel Potenzial und Nachholbedarf gegenüber den Industrienationen. Sie bieten Anlegern einen Zugang zu hervorragenden strukturellen Wachstumschancen. Innerhalb der Anlageklasse gibt es jedoch erhebliche Bewertungsunterschiede zwischen den einzelnen Ländern und Sektoren. Anleger sollten deswegen selektiv vorgehen.

finanzwelt: Wir landen wieder auf dem europäischen Kontinent. Ein kurzes Statement zum Staatenbund?

Roemheld» Leider sieht es in Euroland wirtschaftlich weniger erquickend aus. Doch aus der Sicht der Finanzmärkte ergibt sich ein anderes Bild: Die hiesigen Aktienmärkte verfügen über etablierte Unternehmen und bekannte Marken, die in Form der ‚Granolas‘ in den letzten Monaten durchaus mit den USA mithalten konnten. Vor allem auf der Bewertungsseite ergeben sich dadurch durchaus interessante Anlagemöglichkeiten im Euroraum. (ah)